Behindert sein – ohne Erlaubnis?!

Kürzlich las ich einen Artikel über ein kleines Mädchen mit einer Malformation der Vena Galeni. Die Mutter erklärt:

Die Vena Galeni ist eine der Hauptvenen im Gehirn. Der schwarze Fleck ist ein Kurzschluss zwischen einer Arterie und dieser Vene. Normalerweise fließt das sauerstoffreiche Blut durch die Arterie zum Gehirn, gibt dort den Sauerstoff ab und fließt danach durch die Vene wieder zurück zum Herzen, bei unserem Baby geht es von der Arterie direkt in die Vene. Das sauerstoffreiche Blut nimmt eine Abkürzung – am Gehirn vorbei. Und weil dieser Weg weniger Widerstand bietet, fließt immer mehr Blut zurück, sackt die Ader weiter aus. Das Herz schlägt schneller und schneller, pumpt und pumpt und pumpt beim Versuch, das Hirn doch noch mit ausreichend Blut zu versorgen, pumpt so lange, bis es kollabiert. Lottas Herz schlägt in der Ruhe des Bauches schon jetzt, als joggte sie.

In diesem Artikel setzt sich die Mutter anhand ihres Kindes mit dem Umgang unserer Gesellschaft mit Behinderungen auseinander. Sie beschreibt, wie andere Menschen sie ansprechen und sich wortlos, aber merklich, wundern, dass sie sich für die Geburt entschieden hat, obwohl sie vorher wusste, was geschehen würde.

Ein behindertes Kind, das muss in Deutschland heute doch nicht mehr sein. Dafür gibt es Vorsorgeuntersuchungen, Pränataldiagnostik, Abtreibungen, notfalls Spätabtreibungen. Und doch werden in Deutschland immer noch behinderte Kinder geboren. Laut Statistischem Bundesamt haben 2009, in dem Jahr, in dem Lotta geboren wird, 365 Babys unter einem Jahr einen Schwerbehindertenausweis aufgrund einer angeborenen Behinderung. Lotta ist keins von ihnen, wir beantragen den Ausweis erst später, so wie viele andere Eltern.

Sie beschreibt auch, wie Menschen demonstrativ weggucken, wenn sie mit ihrem Kinderwagen kommt, wahrscheinlich um sie nicht anzuschauen. Sie erlebt die Hilflosigkeit von Menschen gegenüber ihrem Kind und rät:

Wer alle kleinen Kinder anlacht, sollte auch mit meiner Tochter flirten. Wer sich nicht für Babys interessiert, sollte auch ein behindertes nicht anstarren. In einem Wort: Natürlichkeit. Die ist unmöglich, wenn man jede Geste reflektiert. Wer so eine Gebrauchsanweisung nötig hat, bei dem wird sie nicht funktionieren.Der muss versuchen, Behinderte so gut kennenzulernen, dass sie nichts Besonderes mehr sind. Und bis dahin: Schauen Sie nicht auf den Rollstuhl, sondern in die Augen, und reden Sie über das Wetter.

Aber sie erlebt auch ihre eigene Hilflosigkeit, vor allem am Anfang ihrer Geschichte. Zum Beispiel als sie sich entscheiden muss, wie sie von ihrem Kind redet. Wir reden oft von Behinderungen. Die meisten von uns sind nicht persönlich betroffen, es ist leicht, darüber zu reden. Es ist leicht zu sagen, dass Behinderte auch ihren Platz in unserer Gesellschaft haben sollten.

Über verpatzte künstliche Befruchtungen wird freier geredet als über Behinderungen. »Darf ich behindert sagen?«, fragt mich eine Freundin. »Das klingt so abwertend.« In den Broschüren des Gesundheitsamts ist Lotta ein Kind »mit erhöhtem Förderbedarf«. Was soll das sein? Auf der Website eines Kinderladens gibt es neben der Kategorie »Baby« und »Spielzeug« den Punkt »Besondere Kinder«. Ist Ben [der gesunde Bruder] nicht besonders? Im Englischen sind geistig Behinderte »mentally challenged«, geistig herausgefordert. Sind wir so verklemmt, dass wir die Tatsachen verdrehen?

In der interkulturellen Kommunikation gibt es einen Test, der zeigen soll, wie Menschen mit Fremdheit umgehen. Es werden Fragen gestellt wie: Sind Sie gegen Ausländer? Wären Sie einverstanden, wenn es Ausländer in Ihrer Stadt gibt? In Ihrem Viertel? Als Ihr Nachbar? Wenn er Ihre Tochter heiratet? Dabei zeigt sich häufig, dass auch Menschen, die von sich sagen, dass sie nichts gegen Fremde hätten, dann doch nicht so ganz glücklich sind, wenn sie in ihrem persönlichen Umfeld auftauchen. Mich würde nicht wundern, wenn dieser Test auch beim Thema Behinderte funktionieren würde. Behinderte sind uns genauso fremd. Vielleicht sogar noch fremder…

Ja, Lotta gefällt es am Meer, auch wenn sie nicht buddeln kann. Um Glück zu empfinden, muss man nicht laufen können, um zu lieben, nicht sehen können.

Woran mag das liegen? Vielleicht daran, dass uns Menschen, die sich anders verhalten oder anders sprechen, gar anders aussehen, im Alltag häufiger begegnen als Menschen, die sich irgendwie unkontrolliert anders verhalten oder bei denen wir aus anderen Gründen eine Behinderung vermuten. Vielleicht daran, dass Unternehmen gelernt haben, dass Diversity Management nicht nur Gender, sondern auch kulturelle Vielfalt beschreibt, aber Behinderte trotz entsprechender Versprechen in Jobausschreibungen doch eher selten eingestellt werden. Wann hat ein behinderter Mensch denn die gleiche Qualifikation wie ein nicht-behinderter? Wann haben zwei nicht-behinderte Menschen je die genau gleiche Qualifikation?

Wir haben ein anderes Vena-Galeni-Kind kennengelernt, Lukas. Als er zwei Jahre alt war, hatten die Ärzte ihn schon abgeschrieben, heute geht er auf eine Regelschule und spielt Fagotthorn. Diese Ungewissheit müssen wir aushalten.

Wir haben Angst vor der Begegnung, vielleicht ärgern wir uns sogar darüber, wollen uns gern der Gefahr der Begegnung aussetzen um Normalität zu lernen, aber sie bewusst suchen – wäre das nicht schon wieder positive Diskriminierung? Es ist so, wie wenn jemand sagt: Wow, du hast muslimische Freunde? Das sollte ich eigentlich auch haben. Ich habe Freunde, denke ich mir, und ja, ein paar sind Muslime, na und?

Manche Rassismus-Experten raten, Unterschiede nicht bewusst zu übersehen. Das finde ich richtig. Und tatsächlich habe ich die meisten meiner muslimischen Freunde beim interreligiösen Dialog kennengelernt. Aber jetzt sind viele meine Freunde, erst wenn ich darüber nachdenke, fällt mir ein, dass sie auch Muslime sind. Als mich kürzlich jemand fragte, ob ich eigentlich Schwarze persönlich kennen würde, verneinte ich spontan. So ein Unsinn, ein Freund, für mich wie ein Bruder, ist schwarz. Habe ich das verdrängt? Nein. Aber wenn ich an ihn denke, fällt mir zusammen erlebtes ein und dass ich ihn dringend mal wieder anrufen müsste – nicht, welche Hautfarbe er hat.

Kann es Rassismus gegen Behinderte geben? Etwas ähnliches, ja, denke ich. Egal, wie man es nennt. Jedenfalls muss man genauso dagegen vorgehen: Aufklärung, persönlicher Umgang und langsam einkehrende Normalität. Es geht nicht darum, Neues dazu zu lernen. Es geht darum, altes Gedankengut zu verlernen.

Hinter einem behinderten Kind kann man sich prima verstecken vor langweiligen Spielgruppen oder unangenehmen Pflichten. Aber nicht vor einem Dreijährigen. Ben hindert mich am Grübeln und zeigt mir, dass es im Grunde egal ist, ob Lotta nun behindert ist oder nicht. In seinem Alltag zählt nur, ob sie mit ins Planschbecken kommt.

Während wir verlernen, begreifen wir, dass Andere auch glücklich sein können. Die mit dem anderen Geschlecht, der anderen Religion, der anderen Hautfarbe, der Behinderung. Es gibt nicht nur einen Weg zum Glücklich-Sein, sondern ganz ganz viele – Gott sei Dank. Wir haben nicht das Recht, darüber zu entscheiden, wie und ob andere leben. Wir haben auch nicht das Recht, ihr Leben zu werten.

In der Zeitung lese ich von einer belgischen Studie über sogenannte Locked-in-Patienten, Menschen, die so vollständig gelähmt sind, dass sie nur noch per Wimpernschlag mit ihrer Umwelt kommunizieren können, etwa als Folge eines Schlaganfalls. Dann doch lieber tot, oder? 72 Prozent der befragten Patienten sehen das nicht so, sie bezeichnen sich selbst als glücklich.

(Den vollständigen Artikel kann man hier nachlesen.)



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