Begrenzt der Herzschlag das Leben?

Im „Wort zum Sonntag“ des 16. Juni 2012 sprach der evangelische Theologe Stefan Claaß über das Thema „Im Einklang“ (http://www.daserste.de/information/wissen-kultur/wort-zum-sonntag/sendung/2012/claass-16062012-100.html). Seinen knapp vierminütigen Beitrag beendete er mit der Aussage:

„Aber solange die Herztöne klingen, ist jeder Einzelne ein persönliches Geschenk Gottes“.

Ist ein Mensch, dessen Herz eben noch nicht schlägt, kein Geschenk Gottes? Oder ist ein Mensch ohne Herzschlag gar kein Mensch? Wann ist der Mensch denn ein Mensch? Gleichsam könnte man auch fragen: Ist derjenige, dessen Herz aufgehört hat zu schlagen, kein Gottesgeschenk mehr? Die Debatte darum, wann das menschliche Leben beginnt und wann es endet, basiert auf einer zentralen Frage, die wir Christen nicht zu locker beantworten sollten. Ich gehe zwar davon aus, dass die Aussage von Claaß nicht die Intention hatte, Anfang und Ende des menschlichen Lebens zu definieren – und trotzdem kann dem Zuhörer der Eindruck kommen, dass wir eben nur dann in Gottes großer Güte sind, wenn unser Herz schlägt.

Dabei ist es doch gerade diese wunderbare Botschaft, die wir durch unseren Glauben verkünden dürfen: Mit dem Tod ist eben nichts aus. Dann, wenn unser Herz nicht mehr schlägt, dann dürfen wir vertrauen, dass wir in Gottes Gegenwart zurückkehren. Ich glaube „an die Auferstehung der Toten“, so sprechen wir es im Apostolischen Glaubensbekenntnis. Und: „Denn dein ist das Reich, und die Kraft, und die Herrlichkeit, in Ewigkeit“ – das Vaterunser macht klar: Gottes persönliche Anwesenheit ist nicht auf die Zeit unseres irdischen Daseins beschränkt. Viel eher dürfen wir darauf vertrauen, dass uns seine Geborgenheit bis in alle Zukunft erhalten bleibt.

„Im Einklang“ mit uns, aber vor allem mit unserem Schöpfer sind wir aber auch dann schon, wenn von uns noch gar nichts zu sehen ist. Ich bin überzeugt: Wir sind ein Geschenk ab dem Moment, an dem zwei Menschen auf die wunderbare Idee kommen, ein Kind auf die Welt zu bringen wollen. Spätestens dann, wenn Spermium und Eizelle verschmelzen, geht ein Wunsch in Erfüllung – und Gott nimmt es in die Hand, was sich fortan entwickeln wird. Ein Geschenk, das können wir uns nur schwer selber machen. Deshalb ist es der Herr, der dafür sorgt, dass irgendwann ein Herzton klingen wird. Doch das ist nicht der Anfang.

Zwar mögen wir das als eines der ersten für uns wahrnehmbaren Zeichen, Geräusche empfinden, die uns auf ein neues Leben einstimmen. Doch das Geschenk hat Gott zu diesem Zeitpunkt schon lange gemacht. Würden wir den Gedanken von Claaß weiterspinnen, wonach der Herzschlag das ist, auf was Gott in seiner Bewertung des Lebens setzt, wäre das auch ein verheerendes Zeichen für all diejenigen Frauen, die aus unterschiedlichster Not mit dem Gedanken spielen, ihr Geschenk Gottes abzutreiben! Ab etwa der fünften Schwangerschaftswoche, ab welcher der Herzschlag eines Kindes nachgewiesen werden kann, ist zwar bedauerlicherweise rechtlich noch immer ein Abbruch der Schwangerschaft möglich, gleichzeitig sind wir als Christen angehalten, jede Mutter vor den Folgen einer Abtreibung zu bewahren. Das Leben mit dem Herzschlag zu definieren, ist ein heikler Versuch, Gottes Barmherzigkeit zu erläutern. Sie wird dabei reduziert – und im schlimmsten Fall wird Anlass gegeben zu meinen, bis zu den ersten Herztönen sei ein Leben noch nicht lebenswert. Schützenswert ist es ab dem Tag 1, am Tag der Zeugung; lebenswert, Gottes Liebe und sein Geschenk ist es schon früher.

Und ebenso ist für mich unverrückbar: Mit dem letzten Herzschlag mag ein aktives Menschsein auf dieser Erde enden. Doch das Leben geht weiter. Nicht nur die Erinnerungen und das, was jeder Einzelne an Prägungen, an Veränderungen und an Spuren hinterlassen hat, hat einen ewigen Platz in der Geschichte unserer Welt eingenommen. Auch die Würde bleibt – denn: Nach meinem christlichen Verständnis komme ich Gott nahe, wenn ich nach meinem Tod zu ihm trete. Er öffnet mir dann den Blick für das, was ich jetzt noch nicht glauben und nicht fassen kann. Im hiesigen Leben schenkt er mir die vielen Erfahrungen, die Begegnungen, den Sinn – doch eine Vollendung all dessen wartet noch auf mich. Wenn man im Bild von Claaß bleiben möchte: Nicht jeder ist von einem ewigen Leben überzeugt – doch auch nicht jeder braucht eine Schleife auf seinem Geschenk, die es ziert und schnürt. Und doch ist sie für mich der Beweis, dass ich mehr bin als ein in auf diese Weltkugel abgestellter Karton – Gott sieht mich als persönliche Bereicherung für seine Schöpfung. Und genau diese Zusicherung erhalte ich mit der Gewissheit, dass eben auch der letzte Herzschlag nicht mein Ende besiegelt.

Die Ehrfurcht vor diesem Geschenk ist es, die uns Christen vor mancher Schandtat bewahrt. Weder Sterbehilfe, noch der Versuch, aus Körpern Plastiken zu machen, können für uns akzeptabel sein, wenn wir das Leben als unbegrenzten Ausdruck göttlicher Hingabe betrachten. Ich bin dankbar, den Anfang und das Ende nicht durch den Klang des Herzens limitieren zu müssen – denn ich weiß: Nur Gott ist das A und O.

Dennis Riehle


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