Der Mann kam ohne seine Frau in die Beratung. Zu Beginn der Sitzung fragte ich ihn, was er denn an seiner Frau aktuell am meisten schätze. Er musste nicht lange nachdenken: „Meine Frau schläft gern mit mir, wenn ich Lust auf sie habe. Das mag ich sehr an ihr!“ Nach diesem Einstieg blickten wir uns ein paar Atemzüge lang still in die Augen. Ich folgte meinem Bauchgefühl, als ich den Mann dann fragte, wie er sich gerade fühle: „Meine Frau freut sich über mein Begehren. Schön! Aber mir scheint, dass sie mich nicht begehrt, aus welchen Gründen auch immer. Wir haben Sex, wenn ich es will und wenn ich auf sie zugehe, umgekehrt läuft da wenig bis gar nichts. Und das ärgert mich schon lange.“
„Ich kann Ihre Betroffenheit sehen und spüren“, gab ich dem Mann zurück. „In Ihren klagenden Worten höre ich den Wunsch, begehrt zu werden und somit Ihr Sexleben zu verändern. Wenn das so ist, dann stellt sich für Sie die Frage, was Sie unternehmen wollen und wie Sie Ihre Frau für dieses Projekt gewinnen könnten.“
Der deutsche Psychotherapeut und Buchautor Ulrich Clement erklärt Sexualtherapie als „Paartherapie des Begehrens“. Den Begriff Begehren definiert er weitreichend: von Leidenschaft, über Bedürfnis, über Indifferenz, bis zu Abneigung und Aversion. Unter Begehren verstehe ich somit die Kraft, die uns sexuell werden lässt, bzw. uns daran hindert. Dem erwähnten Mann gab ich einen weiteren Standpunkt zu bedenken: „Derjenige Partner mit dem schwächeren Begehren kontrolliert die gemeinsame Sexualität. Das Nein in der Partnerschaft ist mächtiger als das Ja!“
Begehren ist ein Wegweiser in der Beziehung. Vor diesem Hintergrund kann das Nicht-begehren-wollen von zwei Seiten her betrachtet werden: Erstens als Ausdruck für die (erschwerte) partnerschaftliche Kommunikation, oder zweitens als Botschaft, die für sich selbst spricht (und deshalb schwer zu ertragen ist). Bei der Erforschung der sexuellen Lustlosigkeit unterscheide ich, ob jemand kein Interesse an Sex hat oder den Partner nicht begehrt. Clement dazu: „Oft genug wird das zweite unter dem Deckmantel des ersten versteckt.“
Zu Beginn einer Beratung mache ich Paare auf die Risiken und Nebenwirkungen aufmerksam. Der Weg kann unbequem sein und bedrohliche Wahrheiten zu Tage fördern. Frühere Erfahrungen, aktuelle sexuelle Wünsche oder persönliche Abneigungen, die einander bisher nicht eingestanden worden sind, besitzen Sprengkraft. Die entscheidende Frage aber, die ich auch dem eingangs erwähnten Mann stellte, geht uns alle an, liebe Leserinnen und Leser: „Sind Sie gewillt, die Angst, die bei persönlichen Entwicklungsprozessen auftauchen kann, in Kauf zu nehmen und damit zu reifen?“