Die Tage sind so dicht – und voller flüchtiger und bedeutsamer, voller kleiner und grosser Begegnungen, wobei nicht von vornherein feststeht, welche nun gross und welche klein zu nennen ist.
Oder ist jene kurze Episode mit dem streunenden Hund klein zu nennen? Zunächst sah ich nur, dass er hinkte. Ich war entlang der Strasse zwischen Kuilapallayam und Auroville unterwegs, als er mir auf derselben Strassenseite entgegenkam. Sie ähneln sich, die Strassenhunde in ganz Südindien: Von eher kleiner Gestalt, tragen sie ein kurzes, helles Fell, durch das die Haut stellenweise rosa durchscheinen kann. So auch bei diesem Hund. Sein linker Hinterlauf war stark entzündet und über seine ganze Länge deutlich geschwollen. Zudem hatte das Bein eine seltsam durchscheinende wässrig-rötliche Farbe und musste in diesem Zustand unglaubliche Schmerzen verursacht haben. Das Bein schien mir unrettbar verloren, wenn auch noch keine Fäule zu erkennen war. Als Strassenhund ohne Herrchen oder Frauchen hatte er niemanden, der sich um ihn kümmerte. Das beste, was ihm passieren konnte, war wohl ein baldiger, kurzer Tod. Mit dieser flüchtigen Begegnung wurde mir – einmal mehr – das Leiden der Kreatur vor Augen geführt – und dass hier nur der Mensch Linderung schaffen könnte, indem er das Tier einfinge und es nach allen Regeln der Veterinärkunst behandelte.
Zu Gast bei Murugan und Familie
Die Begegnungen mit Murugan und seiner Familie sind jeweils ein Fest. Murugan ist Tamile und lebt mit seiner Familie in einfachsten, aber würdigen Verhältnissen in Kuilapallayam, Tamil Nadu. Wir haben uns vor zwei Jahren kennengelernt und pflegen seither eine verlässliche Freundschaft, die intensiv gepflegt und immer wieder zelebriert wird – hauptsächlich von Seiten Murugans. Manchmal wird es mir fast etwas zu viel … Wenn etwa Murugan zu Besuch kommt – meistens überraschenderweise –, so bringt er stets ein kleines Geschenk mit, zum Beispiel etwas zu essen, das seine Frau vorbereitet hat, oder Früchte. Die Idee ist nun nicht, dass wir es gemeinsam verspeisen, sondern das Geschenk ist allein für mich bestimmt. Würde ich ihn nicht immer wieder bremsen, Murugan würde mich mit Früchten und anderen Speisen nur so überhäufen. Unmöglich, dies alles zu essen! Wenn ich bei Murugans Familie zu Gast bin, muss ich jeweils alleine speisen. Es wäre ganz gegen die Sitte, gemeinsam mit dem Gast zu speisen. Vielmehr bereitet die Gastgeberin das Essen vor, schöpft dem Gast – und zieht sich zurück, sofern das irgend möglich ist. Erst wenn der Gast fertig gegessen hat, setzt sich auch der Gastgeber hin und isst etwas. Mehrere Male habe ich versucht, diese für mein Verständnis befremdliche Sitte aufzuweichen. Vergeblich! Erst als wir alle, Murugan, seine Familie und ich, bei dessen Schwiegereltern zu Gast waren, konnte ich einmal – ein einziges Mal – gleichzeitig und gemeinsam mit Murugan und Familie speisen. Zum Abschied werde ich den Spiess umdrehen, die ganze Familie in ein Restaurant einladen – und mich dazusetzen …
Das freundliche Gespenst
Wie ist jene andere Begegnung zu bewerten mit der alten Inderin gehobenen Standes? Jedenfalls vermute ich, dass sie aus besserem Hause war. Sie strahlte eine vornehme Gediegenheit aus, wie man sie sich bei Adeligen vorstellt, eine Gediegenheit, die sich mit Stolz vermischen und so in Überheblichkeit, in Dünkel umschlagen kann. Wobei ich bei ihr nur reine Gediegenheit wahrnahm, die auch allein innerer Natur sein konnte. Womöglich war sie spirituelle Schülerin von Sri Aurobindo und Mira Alfassa, der Mutter, gewesen. Die zierliche Frau in hellem Sari mit durchgeistigtem, fast durchscheinenden Gesicht wirkte auf mich, als wäre sie nicht mehr ganz von dieser Welt. Sie bewohnte zusammen mit ihren Hausangestellten ein stattliches Haus ganz in der Nähe meiner Unterkunft in der Community mit Namen New Creation. Wie ein freundliches Gespenst erschien sie mir, als sie mich von ihrem Garten aus durch eine Lücke im Gebüsch ansprach. Zunächst bemerkte ich sie kaum, denn ihre Stimme war nicht weniger zart wie ihr Gesicht. Danach versuchte ich zu verstehen, was sie in gediegenem Englisch zu mir sagte. Sie erzählte und erzählte. Und was sie erzählte, wirkte sehr bedeutungsvoll. Doch sosehr ich mich bemühte, ich konnte in ihrer Rede keinen Zusammenhang erkennen. Das lag durchaus nicht an Verständigungsschwierigkeiten. Ich verstand sie rein sprachlich sehr wohl. Die alte, bestimmt mal hochintelligente Frau sprach unzusammenhängende, aber gewichtig daherkommende Sätze. Sie delirierte.
Parkinson in reichem Hause
Ist jene Begegnung in Pondicherry gross zu nennen, weil ich in ein grosses, reiches Haus zum Tee eingeladen wurde? Bestimmt an die zwanzig Bedienstete waren zugegen, als ich hinein kam: Männer, beschäftigt mit Reparaturarbeiten, Frauen am Kochen und andernorts am Putzen. Weitere Männer räumten etwas weg. Und dabei hatte ich nur das unterste Geschoss eines Gebäudes mit insgesamt sechs Stockwerken gesehen. Die Schwiegertochter des Hauses hatte mich an der Meerespromenade angesprochen, weil sie mein Rollstuhlzuggerät entdeckt hatte, davon offenbar – wie so viele hier in Südindien – fasziniert war und es ihrem Schwiegervater zeigen wollte. Ob ich kurz Zeit hätte und zum Tee ins nahe Haus ihrer Schwiegereltern kommen könne. Ihr Schwiegervater hätte Parkinson und würde über kurz oder lang einen Rollstuhl benötigen. Und mein Gerät schiene ihr genau das Richtige für ihn zu sein. Als ich ihr erklärte, das Zuggerät sei nur in der Schweiz erhältlich und ausserdem sehr teuer, antwortete sie, Geld spiele keine Rolle. Ich nahm mir also die Zeit und liess mich zum Tee einladen.
Eine Viertelstunde später traf ihr Schwiegervater ein, begleitet von vier Männern, die laut der Schwiegertochter ständig um ihn herum waren und ihm nun aus der Nobelkarosse halfen. Er humpelte zu uns auf die Veranda des Hauses, setzte sich auf einen eilig herbei gebrachten Stuhl und liess sich das Gerät vorführen. Als ich erklärte, um den Trac benutzen zu können, sei es notwendig, dass man Arme und Hände einsetzen könne, machte er ein trotziges Gesicht und bat mich, ihm meine Hand zu reichen, die er sogleich so kräftig, wie er nur konnte, drückte, um mir zu beweisen, dass er sehr wohl in der Lage war, ein solches Gerät zu steuern.
Offensichtlich war der Mann gewohnt, Befehle zu erteilen. Er herrschte über ein wenn auch kleines Imperium. Vielleicht sogar über ein grosses. Jedenfalls stand das Haus, wie ich erst später bemerkte, unter diskreter Bewachung. Das einzige, was der Mann nicht im Griff hatte, war seine Parkinson-Erkrankung. Sie befahl über ihn. Keine zehn Minuten nach seiner Ankunft war er, der auf mich wie ein Getriebener wirkte, mit seiner Entourage wieder verschwunden.
Die Prostituierte aus Assam
Auf halbem Weg nach Auroville bei der Abzweigung Richtung Sharnga Guest House gibt es ein kleines, namenloses Restaurant unter niedrigen Bäumen. Dort habe ich einen Zwischenhalt eingelegt. Eine junge, westlich gekleidete Inderin war – neben ein paar wenigen anderen Gästen – dort mit ihrem Kleinkind. Wir kamen ins Gespräch. Sie war aus Assam und knapp 23 Jahre alt, wie sie freimütig erklärte. Bald erzählte sie, das Mädchen hier sei ihr siebtes Kind, was mich bei ihrem Alter doch recht erstaunte. Als ich mich nach dem Alter der anderen Kinder erkundigte und wo denn diese seien, antwortete sie, dies hier sei ihr «Love Baby», ihr Kind der Liebe. Die anderen sechs KInder seien Aborte gewesen. Gemeint hat sie damit, die anderen sechs Kinder seien abgetrieben worden. Mit welchem Gleichmut, mit welcher Selbstverständlichkeit sie das erzählte! Aus ihrem Verhalten auch mir gegenüber musste ich schliessen, dass sie eine Prostituierte war. Gerne hätte sie mich zu meiner Unterkunft begleitet. Ich aber wollte nicht.
Die Tage sind voller kleiner und grosser Begegnungen. Und es ist nicht wichtig, welche nun gross, welche klein zu nennen sind. Nicht selten sind es die vermeintlich kleinen, die im Gedächtnis haften bleiben. Und die grossen, ach so wichtigen werden unbedeutend und gehen vergessen, sobald sich der Pulverdampf verzogen hat.
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