Begegnung in Bangkok

Begegnung in Bangkok

Viel sind wir gereist im August, unter anderem nach Thailand und Südafrika.
Beeindruckendes haben wir gesehen. Bewegendes, Faszinierendes, Buntes und Außergewöhnliches.
Von diesen großen und kleinen Abenteuern berichte ich euch gerne in Kürze mit Bildern.
Vorher möchte ich allerdings noch eine Geschichte erzählen. Die Geschichte einer Begegnung in Bangkok, die meinen Mann und mich berührt hat und uns nach wie vor beschäftigt. Es ist die wahre Geschichte eines Wirtschaftsflüchtlings.
Flüchtlinge? Schon wieder? Ja!
Viel wurde in den letzten Tagen geschrieben und gedreht über Menschen in Not. Flüchtlinge, von denen ein kleiner Teil nach Deutschland strömt. Aus Syrien, dem Irak, aus Afrika und dem Balkan. Ein kleiner Anteil verzweifelter Menschen, der für viele schon zu groß ist. Flüchtlinge, die Proteste und Unmut auslösen. Und immer öfter lese ich, wie fein säuberlich getrennt wird in Deutschland als ginge es um Restmüll. Kriegsflüchtlinge - gehen (im besten Fall) grade noch. Wirtschaftsflüchtlinge? Weg mit denen! Sollen sie doch ihre eigene Wirtschaft ankurbeln, sich selbst etwas aufbauen. Wir haben keine Verwendung für sie. Wollen sich hier einfach ins gemachte Nest setzen. Aber nicht mit uns. Das Boot ist voll!
Lang haben wir gesprochen mit einem Flüchtling aus Burma (auch Birma oder Myanmar).
Wir standen auf einer gemeinsamen Fahrt durch Bangkok mit ihm im Stau und sprachen ihn auf sein gutes Englisch an. Wo er das gelernt hätte. Und so erfuhren wir Stück für Stück die Geschichte eines beeindruckenden jungen Mannes, der kämpft und rudert seit seiner Geburt. Es ist ein Kampf gegen Windmühlen. Ein Kampf für ein besseres Leben, dessen Erfolgsaussichten gering sind.
Sein Antrieb bleibt: Er ist die Hoffnung.
Der Mann sitzt in der Reihe vor mir und blickt abwechselnd aus dem Fenster und unterhält sich mit uns. Er sieht noch fast wie ein Teenager aus, aus ihm spricht allerdings so viel Lebenserfahrung, dass ich sein Alter nicht einschätzen kann. Er ist freundlich und lacht viel, erzählt uns Interessantes über die Stadt. Sein Englisch ist ungewöhnlich gut. Ob er das in der Schule gelernt hätte? Er winkt ab. Diese Möglichkeiten hatte er nie.
Er wuchs in einem Dorf in Burma auf. Auf einem kleinen Hof gemeinsam mit seiner Mutter als Zweitältester unter 7 Geschwistern. Dort versorgten sie sich selbst mit dem Nötigsten. Es war eine schöne Zeit im Schoße seiner Familie, die aber oft von Ängsten und Nöten durchzogen war. Beispielsweise der Sorge beim Schlafengehen, am nächsten Tag wieder nicht satt zu werden. Für gute Schulbildung reichte das Geld nicht und Arbeit zu finden war aufgrund der mangelnden Infrastruktur unmöglich. Die Familie hörte von Thailand und Bangkok. Davon, dass man dort viel Geld verdienen und ein gutes Leben führen könne.
Und so machte sich der Mann vor 7 Jahren auf die Reise. Im Gepäck ein paar Klamotten und die Hoffnung auf ein besseres Leben. Arbeit wollte er finden, genug verdienen um satt zu werden und seine Familie aus der Entfernung unterstützen, anstatt ihr auf der Tasche zu liegen. Er war noch ein Teenager und verließ er zum ersten Mal sein Heimatdorf. Illegal über den Landweg brachte ihn seine Reise nach mehreren Wochen nach Bangkok. Einer Stadt, die er nur vom Hörensagen kannte. Der junge Mann sprach und schrieb ausschließlich birmanisch und fühlte sich verloren.
Jemand vermittelte ihm Arbeit in einem Restaurant. Er wusch Teller, in den Service konnte man ihn nicht lassen ohne Thai- oder Englisch-Kenntnisse. So startete er in sein neues Leben, arbeitete von früh morgens bis spät abends. 7 Tage die Woche. Er schlief am Arbeitsplatz und erhielt 100€ Lohn im Monat. Die ersten Wochen waren die härtesten. Nachts weinte er oft heimlich. Er vermisste seine Mutter und seine Familie. Er hatte Hunger und Durst. Den ganzen Tag war er umgeben von Lebensmitteln. Doch er aß und trank nur, wenn ihm jemand etwas in die Hand drückte. Er verstand nichts und traute sich nicht zu fragen, ob er sich ab und zu einen Schluck Wasser oder eine Schale Reis nehmen dürfe. Zu groß war die Angst, den Chef zu verärgern und seine Arbeit zu verlieren.
Doch es wurde besser. Er lernte die Sprache, verständigte sich mit Chef und Kollegen, bekam das nötigste zu essen. So lebte er. Ein ganzes Jahr lang. 365 Tage.
Dann fasste sich der Junge ein Herz und bat um eine Gehaltserhöhung.
Es folgte der Rauswurf und das Ausbleiben der letzten beiden Gehälter.
Doch er hatte Glück im Unglück, seine Reise führte ihn zu seiner zweiten Arbeitsstelle, die er bis heute heute beibehalten hat. Seit 6 Jahren arbeitet der Mann für eine renommierte Firma, die Maßanzüge für Kunden in aller Welt herstellt. Die Konditionen seien gut. Inzwischen arbeite er nur noch 12 Stunden am Tag, 6 Tage die Woche. Auch an gesetzlichen Feiertagen. Jährlich wird sein Gehalt erhöht. Er startete mit 170 Euro Monatsgehalt, inzwischen - nach 6 Jahren - verdient er fast 400 Euro monatlich.
Der Mann ist verheiratet. Seine Frau stammt wie er aus Burma. Mit den gleichen Zielen, Träumen und Hoffnungen kam sie nach Bangkok. Sie arbeitet als Köchin in einem Restaurant. Die beiden bewohnen jeweils ein Zimmer an ihrem Arbeitsplatz. 2 Mal im Monat, wenn sie frei haben, verbringen sie einen Samstag miteinander. Ansonsten bleibt neben der Arbeit keine Möglichkeit, sich zu sehen.
Sie träumten von einer Familie. Vor über zwei Jahren kam ihr Sohn auf die Welt.
Während der Geburt kam es zu Komplikationen und eine natürliche Entbindung wurde unmöglich. Das Kind wurde per Kaiserschnitt auf die Welt geholt. Eine Operation, die teuer ist.
So brachte das Schicksal sie in eine Zwickmühle.
Die Krankenhauskosten mussten beglichen werden, doch das Gehalt des jungen Mannes reichte nicht aus, um die hohe Rechnung zu begleichen und gleichzeitig die Versorgung seiner Familie sicherzustellen.
Seine Frau musste wieder arbeiten. Da sie keine Angehörigen in Bangkok hatten, gab es keine Möglichkeit, ihren Sohn während der Arbeitszeiten betreuen zu lassen.
So musste die Familie aus der Not heraus eine folgenschwere Entscheidung treffen: Vor 18 Monaten schickten sie ihren Sohn auf die Reise nach Burma, um ihm dort im Hause seiner Großmutter versorgen zu lassen. Seitdem haben sie ihn nicht mehr gesehen.
Wer selbst Kinder hat weiß, was das bedeutet.
Die Großmutter besitzt keinen Internetanschluss, nur ein Festnetztelefon.
Zweimal jede Woche fährt der junge Mann nach Feierabend eine Stunde mit dem Motorroller durch die Stadt, um zu telefonieren. Nach Burma. Einmal, um ein Datum und eine Uhrzeit für das Telefonat mit seiner Familie ausrichten zu lassen und einmal, um das Telefonat durchzuführen.
Sein Sohn spricht noch schlecht und undeutlich. Doch der Mann zahlt viel Geld um dem Gebrabbel einmal wöchentlich 30 Minuten lang lauschen zu können.
Das sind seine persönlichen Glücksmomente.
Der Grund, für den es sich lohnt, weiterzumachen.
Wann sie ihren Sohn wiedersehen, wissen sie nicht. Sie besitzen keine Pässe und eine Flugreise durchzuführen ist für das Paar unmöglich. Eine Fahrt mit dem Auto zur Familie ist beschwerlich. Aufgrund der schlechten Straßen würde sie 2 Wochen dauern. Dafür müssten die beiden erstmal genug Ersparnisse aufbringen, um für die Zeit der Reise nicht zu arbeiten. Das ist schwer, denn beinahe jeder Cent wandert nach Burma. Für Essen für den Sohn, Windeln, Arztbesuche.
Der Mann hat ein gebrochenes Herz. Er ist enttäuscht vom Leben. Er tut alles was er kann, und doch ist es nie genug. Er hat eine Frau, die er liebt und ein Sohn, für den er sein Leben geben würde. Doch zu selten kann er die beiden in seinen Armen halten.
Was bleib ist die Hoffnung. Immer weiter machen. Tag für Tag. Vielleicht schafft er es eines Tages, seinen Sohn zu sich zu holen. Wenn er nur hart genug arbeitet und fest genug glaubt.
Vielleicht wird er das Schulgeld in Bangkok für ihn aufbringen können und genügend Geld, um ihn und die Frau zu ernähren. Vielleicht wird die Frau eines Tages nur noch so viel arbeiten müssen, dass sie ihren Sohn von der Schule abholen kann. Das ist ihr großer Traum.
Noch lächeln sie.
Wie anmaßend ist es doch von uns Europäern, die Träume solcher Menschen zu verurteilen?
Für wen halten wir uns, über Menschen in Not zu richten?
Ihnen ein Recht auf eine bessere Zukunft abzusprechen?
So zu tun, als wäre es unser persönlicher Verdienst, zur richtigen Zeit ins richtige Land geboren worden zu sein?
Wir wissen nichts über diese Menschen, haben ihre Ängste noch niemals gespürt und ihren Mut, ihr Engagement, ihr Durchhaltevermögen und ihren Ehrgeiz nie selbst aufbringen müssen. Aber natürlich bilden wir uns ein, am besten zu wissen, wie diese Menschen zu handeln hätten.
Menschen riskieren ihr Leben in der Hoffnung, es so zu erhalten. Sie wachsen über sich hinaus, geben ihre Existenz auf, halten mehr aus, als sie ertragen können nur um vielleicht eines Tages satt mit ihren Lieben im Arm einschlafen zu können.
Menschen kämpfen, um dem Leiden ihrer Kinder zu entkommen.
Ist das dumm und naiv? Fordernd und unverschämt?
Nein! Es ist mutig und bewundernswert!
Der Deutsche blickt auf den Wirtschaftsflüchtling und sieht eine Bedrohung. Eine Bedrohung seines Wohlstandes. Er ist unersättlich und was er hat ist niemals genug. Das Gefühl bleibt, es könne ihm ja etwas weggenommen werden. Doch der Flüchtling ist kein Schmarotzer, der kommt um zu nehmen, was ihm nicht zusteht.
Er ist ein Mensch, der sich noch nicht vollständig aufgegeben hat. Ein Mensch, der nicht bereit ist, sein Schicksal in fremde Hände zu legen und unnötig zu leiden. Dabei fordert er gerade mal das Mindeste, was ihm zusteht: Ein Leben in Würde.
Dafür hat er wenigstens Respekt und Anerkennung verdient.


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