Before I Die … Eine Kunstaktion geht um die Welt

Von Kulturstrandgut

Es ist immer noch November. In der Stadt sind schon die Buden für den Weihnachtsmarkt aufgebaut, aber noch sind sie geschlossen. Auf dem Platz, den wir jeden Tag überqueren, steht schon die große Tanne, aber bis jetzt laufen wir noch daran vorbei, ohne sie wirklich zu bemerken, weil sie noch nicht geschmückt ist. Ich habe ein ambivalentes Verhältnis zu dieser Zeit. Auf der einen Seite fällt mir die Umstellung auf die dunkle Jahreszeit schwer: das fehlende Licht, die Kälte, das Grau. Auf der anderen Seite bin ich noch nicht bereit für Schnee und Weihnachtsglitzer, Kerzen und Kitsch. Das muss noch warten. Und gerade das mag ich an dieser Zeit: das Abwarten, das Aushalten, das Nochnicht.

Copyright: Trevor Coe – Savannah, GA. Quelle: beforeidie.cc

Grau, Dunkel und Kälte sind Realitäten und haben ihre Berechtigung. Es kommt nicht von ungefähr, dass traditionell gerade in dieser Zeit das Totengedenken, das Bewusstmachen der Realität des Todes eine Rolle spielt. Neulich habe ich schon mal kurz den mexikanischen Día de los Muertos erwähnt, der an die christliche Allerheiligentradition anknüpft. Bunt verzierte, süße Totenköpfe und Skelette, fröhliche Feiern auf dem Friedhof mit lauter Musik sind uns Europäern eher fremd. Aber warum eigentlich? Ich habe Lust, dem hier noch einmal Raum zu geben. Ein gute Gelegenheit dafür bietet die Kunstaktion „Before I Die“, die schon seit mehreren Jahren gewissermaßen als Selbstläufer um die Welt rollt.

„Before I Die …“ – auf schwarzen Tafelwänden steht dieser Satzanfang und dahinter ist viel freier Raum. Allerdings bleibt der erfahrungsgemäß nicht lange frei. Bunte Kreiden stehen bereit, mit denen jede und jeder, der oder die möchte, den Satz vervollständigen kann. Und das geschieht. Egal wo: Schon nach einem Tagen sind die Tafeln meistens voll und werden dann wieder gelöscht, um neu gefüllt werden zu können. Vorher werden noch Fotos gemacht, die ins weltweite Netz wandern.

Die Aktion war ursprünglich eine Idee der Künstlerin Candy Chang und ist aus einem sehr persönlichen Erleben entsprungen. Nach dem Tod eines nahen Angehörigen fand Chang einen eigenen Weg, mit diesem Verlust umzugehen: In ihrer Heimatstadt New Orleans strich sie eine Hauswand mit schwarzer Tafelfarbe und setzte darauf das Stencil „Before I die I want to …“ Mehr nicht. Nach einem Tag war die Wand voll mit den Träumen und Gedanken der Passanten. „Before I die I want to … sing for millions, plant a tree, hold her one more time, straddle the International Date Line, see my daughter graduate, eat more everything, abandon all insecurities, be completely myself …“ Die Anonymität des öffentlichen Raums, so war sich die Künstlerin sicher, erlaubt es auch zurückhaltenden Menschen, ihre persönlichen Vorstellungen und Wünsche mit anderen zu teilen.

Copyright: Candy Chang – New Orleans, LA. Quelle: beforeidie.cc

Copyright: Candy Chang – New Orleans, LA. Quelle: beforeidie.cc

Womit Chang nicht gerechnet hatte, war die weltweite und anhaltende Resonanz. Innerhalb kurzer Zeit, nachdem sie die Fotos von ihrem Projekt veröffentlicht hatte, meldeten sich zahlreiche Menschen aus der ganzen Welt, die auch eine „Before I Die“-Wand gestalten wollten. Inzwischen gibt es rund fünfhundert davon auf der ganzen Welt, in mehr als siebzig Ländern und über dreißig Sprachen. Auch ein Buch ist erschienen, das einen Großteil der „Before I Die“-Wände abbildet und deren Entstehungsgeschichte erzählt und einen guten Überblick gibt über die verschiedenen Träume und Ideen von Menschen auf der ganzen Welt. In Deutschland wurde das Projekt in den letzten Jahren ebenfalls in vielen Städten umgesetzt, so in Berlin, Bremen, Erfurt, Aachen oder Mönchengladbach. Aktuell läuft es unter anderem in Hamburg und Schweinfurt. Candy Chang ist offen für alle Interessierten, die eine eigene „Before I Die“-Aktion umsetzen wollen. Auf der Projektwebseite gibt es eine Handreichung, Tipps und Hinweise für die benötigten Materialien.

Was ich besonders interessant an der Aktion finde ist ihre Internationalität, die Tatsache, dass sie Menschen auf der ganzen Welt anspricht. Egal, ob in Acapulco oder Bukarest, Chiang Mai oder Guatemala, in Kiew oder Teheran: Es werden zum Teil sehr ähnliche oder zumindest vergleichbare Wünsche und Träume aufgeschrieben. Am Ende sind wir gar nicht so verschieden. Und trotzdem bunt wie die Kreiden auf dem schwarzen Tafelschiefer.

Copyright: Jenny Carden – Cordoba, Argentina. Quelle: beforeidie.cc