Bedrohung Islam? Anatomie eines Feindbildes

Bedrohung Islam? Anatomie eines Feindbildes

21.03.2011Hintergrund 

Bedrohung Islam?  Anatomie eines Feindbildes

Varianten eines Dauerkonflikts

 

Seit dem Terroranschlag der Al Qaida am 11. September 2001 in den USA hat das Feindbild Islam eine neue Dimension bekommen. Und seither ist das Schlagwort vom sogenannten Kampf der Kulturen mehr denn je in Umlauf.

Das Schlagwort bezieht sich auf den Buchtitel des berühmt-berüchtigten Bestsellers aus dem Jahr 1996. Der Verfasser Samuel P. Huntington, amerikanischer Politik­wissenschaftler und zeitweilig einflussreicher Berater des US-Außenministeriums, hat in seinem Buch Clash of Civilisations (übersetzt mit Kampf der Kulturen) Thesen entwickelt, die aufgrund der aktuellen Ereignisse gerade jetzt weltweit diskutiert werden: Die Weltpolitik im 21. Jahrhundert werde nicht von Auseinandersetzungen politischer, ideologischer und wirtschaftlicher Natur bestimmt, sondern von Konflikten zwischen sieben großen Kulturen: der westlichen, der lateinamerikanischen, islamischen, chinesischen, japanischen, hinduistischen, afrikanischen.

Huntington widmet aber dem Islam besonders viel Aufmerksamkeit, weil seiner Meinung nach die islamische Welt zukünftig die gefährlichsten Konflikte verursacht. Huntington glaubt nicht nur, dass während der nächsten Jahrzehnte in den meisten muslimischen Staaten radikale Fundamentalisten die Macht erobert haben werden. Ja, er sieht in dieser Machtverschiebung noch nicht einmal das entscheidende Problem. Denn, so formuliert er auf Seite 350 seines Buches: „Das tiefere Problem für den Westen ist nicht der islamische Fundamentalismus. Das tiefere Problem ist der Islam, eine andere Kultur, deren Menschen von der Überlegenheit ihrer Kultur überzeugt und von der Unterlegenheit ihrer Macht besessen sind“. Huntington und andere Propheten der Apokalypse sehen die Konfrontation zwischen Islam und Abendland als deshalb so gefährlich an, weil im Westen ebenfalls eine derartige Tendenz zur Absolutheit, ebenfalls der Drang zur Weltherrschaft mittels einer Religion oder Ideologie angelegt ist.

Gerade radikale Kräfte auf beiden Seiten bestätigen diese Rivalität auf bestürzende Weise. Die Konfrontation zeigt sich bereits in einem Krieg der Worte, der immer weiter zu eskalieren droht. Schon Khomeini, der Führer der „Islamischen Revolution“ von 1979, hatte vom „Reich des Bösen“ gesprochen, wenn er den „Westen“ meinte, und keiner hatte häufiger als er die USA „Satan“ genannt. Der religiös-politische Extremist gebrauchte religiös aufgeladene Metaphern, wie sie erst seit dem politischen Erstarken des islamischen Fundamentalismus breitenwirksam bei den Muslimen in Umlauf gekommen sind. Wir selber haben aber keinerlei Anlass, mit bloßer Verachtung auf solche religiös-mittelalterliche „Rückständigkeit“ herabzu­sehen, gebrauchen doch bei uns selbst einige führende Politiker, allen voran US-Präsident George W. Bush, nahezu gleiche Metaphern. Bush sprach und spricht vom „Reich des Bösen“ oder der „Achse des Bösen“, wenn er feindliche und hier besonders islamische Staaten im Visier hat. Er bedient sich eines Wortschatzes, der den Traditionen eines aufgeklärten Westens schroff widerspricht – und auf einen Fundamentalismus christlicher Prägung hinweist.

„Heiliger Krieg“, „Kreuzzug“, „Mächte des Bösen“, „Kräfte der Finsternis“ ... Diese Schlagworte, wie sie Muslime und Christen immer wieder in gegenseitiger schroffer Abgrenzung gebrauchen, haben bekanntlich eine weit zurückreichende Tradition. Dass wir hier in der Tat von einem seit 1300 Jahren dauernden Konflikt – letztlich also von einem Dauerkonflikt – sprechen müssen, versteht sich von selbst. Erschrecken muss uns allerdings, wie intensiv Islam und Christentum sogar in ihrer Anfälligkeit für fundamentalistische Radikalität geistig verwandt sind. Andererseits müssen wir uns klar darüber sein, dass wir, indem wir uns auf derart negative Aspekte konzentrieren, weder der christlich-abendländischen noch der islamischen Kultur auch nur in Ansätzen gerecht werden. Insofern entspricht auch das politisch so relevant gewordene Schlagwort vom „Kampf der Kulturen“ nur sehr wenig der Realität, wie ich später noch zu zeigen versuche.

Muslime müssen sich naturgemäß missverstanden, ja verletzt fühlen, wenn wir ihnen unterstellen, sie neigten mehrheitlich zu Intoleranz oder gar zu Radikalität und Gewalt. Noch schlimmer aber: Wenn wir solch negative Tendenzen strukturell in ihrer Religion angelegt sehen, während wir ihnen missionarisch unsere eigene Religion und Kultur als grundsätzlich „friedfertig“ entgegenhalten. Umgekehrt müssen wir uns krass missverstanden fühlen, sobald radikale Muslime die Menschen im „Westen“ pauschal als „gottlos“, „moralisch dekadent“, „materialistisch“, „rassistisch“ und „imperialistisch“ abkanzeln. Ihre Unterstellungen gipfeln oft in dem Vorwurf, der „Westen“ wolle „den Islam vernichten“. Auch muslimische Verschwörungstheoretiker wissen sehr wohl, dass undifferenzierte Feindbilder dabei helfen können, die Widersprüchlichkeiten und Ungereimtheiten im eigenen Kultur- und Lebensraum zu übertünchen. 

Aber so alt der Konflikt zwischen islamischer und abendländischer Welt auch ist, dürfen wir nicht übersehen, dass sich im Verlauf der Jahrhunderte die Akzente in der Auseinandersetzung entscheidend verlagert haben. Ursprünglich entzündete sich die Rivalität an der Frage, ob die ganze Welt im Zeichen der alleinrichtigen Religion christianisiert oder islamisiert werden sollte. Kreuz oder Halbmond bedeutete in diesem Zusammenhang die schroffe Alternative. Unsere westliche Industriegesellschaft kennt jedoch längst nicht mehr das zentrale, für alle verbindliche Glaubensbekenntnis oder eine entsprechend politisch-sakral normierte Lebensform, sondern eine Vielfalt an Weltanschauungen, von religiös bis atheistisch. Daher sprechen ja viele von uns nicht mehr vom „christlichen Abendland“, sondern benutzen das Adjektiv eher als historisch zu verstehendes Zitat oder gar ironisch-provokativ. Andere Völker christlich zu missionieren ist bei uns zum Anliegen einer religiösen Minderheit geworden, denn selbst viele Christen, zumindest in Westeuropa, wünschen heute eher einen „Dialog“ mit Andersgläubigen, als dass sie deren Bekehrung wichtig fänden. Inzwischen hat im „Abendland“ – oder im „Westen“, wie wir entsprechend sagen – ein sehr weltlicher Missionstrieb die Oberhand gewonnen: Die ganze Welt soll im Zeichen der alleinrichtigen Zivilisation „verwestlicht“ werden.

Zu Recht sprechen wir aber weiterhin vom „islamischen Orient“. In diesem kulturellen Großraum leben die Menschen nämlich noch überwiegend in einer religiös-politisch durchstrukturierten Gesellschaft. Eine Säkularisierung hat in der islamischen Welt kaum oder höchstens in Ansätzen stattgefunden. Und gerade dieser Unterschied – entweder die Religion als verpflichtende Mitte der Gesellschaft oder als „Privatsache“ jedes Einzelmenschen – bedeutet für viele Muslime heute den hauptsächlichen Gegensatz zwischen Islam und Abendland. Je mehr bei uns die Kirchen an politischem Einfluss verloren haben, um so weniger sehen die Muslime vom Christentum Gefahr ausgehen und um so unbefangener können sie der geistesverwandten Religion begegnen. 

Die muslimische Abwehr richtet sich inzwischen vorrangig gegen den „Westen“ mit seiner expansiven „imperialistischen“ Macht und häufig auch gegen die „säkulare“ Gesellschaftsordnung des Westens, weil „säkular“ (weltlich) oft im Sinn von „antireligiös“ verstanden wird. Vielen von uns dagegen erscheint weiterhin der Islam auch als Religion bedrohlich, eben weil im Orient die Verbindung zwischen Religion und Politik mehr oder weniger erhalten blieb.

Weit verbreitet ist bei uns die Meinung, keine Religion neige derart zu radikaler Politisierung wie der Islam und keine entfalte hierbei eine derart entschiedene Abgrenzung gegenüber anderen Religionen und Kulturen. Entsprechend verbreitet ist auch die Tendenz, die Begriffe Islam und Islamismus fast schon austauschbar zu verwenden. Dabei unterschlagen wir gerne, dass Fundamentalismus als Krisensymptom nicht minder in unserer eigenen Kultur angelegt ist. Nur sind wir rascher bereit, zwischen verschiedenen Strömungen innerhalb unserer eigenen Kultur zu differenzieren. 

Viele von uns setzen den islamischen Fundamentalismus ausschließlich mit rigiden, gewaltbereiten, fanatischen, ja in jüngerer Zeit auch mit terroristischen Bewegungen gleich. Tatsächlich aber fächert sich die „Islamiya“ – der „Islamismus“, wie die Muslime diese Bewegung selber nennen – in völlig unterschiedliche Strömungen auf. Einerseits sind wir mit äußerst gewaltbereiten und gewalttätigen Gruppierungen konfrontiert wie etwa der Terror-Organisation Al Qaida und ihrer Symbolfigur Osama Bin Laden. Auch sind uns eine Reihe islamistisch regierter Staaten als besonders brutale Diktaturen in Erinnerung, allen voran das Regime der afghanischen Taliban, unverhohlen despotisch auch der iranische Gottesstaat unter Ayatollah Khomeini. Andererseits steht der iranische Staatspräsident Mohammed Khatami kaum zwei Jahrzehnte später für einen gemäßigten Islamismus, der (zumindest in gewissen Grenzen) eine kulturelle Vielfalt zulässt und einen Dialog mit dem „Westen“ sucht. Gerade das Beispiel Iran zeigt, wie schwierig es ist, den islamischen Fundamenta­lismus in seiner Vielfalt, seinen gegenläufigen Strömungen zu verstehen. Ausge­rech­net im Gottesstaat Iran, wo sich 1979 erstmals überhaupt eine islamistische Regierung gebildet hat, ist inzwischen die Bewegung einer „Islamischen Revolution“ in einen gemäßigten und einen radikalen Flügel gespalten.

Zu einer differenzierten Betrachtung des Islamismus zwingt uns auch die aktuelle Entwicklung in der Türkei. Seit dem November 2002 regiert dort die Partei „Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP) mit absoluter Mehrheit. Die AKP definiert sich als „gemäßigt islamisch“, ist aber aus einer radikaleren islamischen Partei hervorgegangen. Ihr Führer Recep Tayyip Erdogan hat sich von der Ideologie seines politischen Ziehvaters Necmettin Erbakan gelöst und möchte die Türkei in die EU integriert sehen. Wenn wir als Europäer diese Zielsetzung einer „islamisch“ orientierten Partei auch kritisch zu überprüfen haben, müssen wir dieser Partei doch eines zugestehen: Ihre Zielsetzung unterscheidet sich wesentlich vom antiwestlichen Kurs radikal-islamischer Parteien.

Wie islamisch ist der Terrorismus?

Bleiben wir zunächst beim radikalen Islam – und hier seiner beunruhigendsten Ausprägung: dem Terrorismus. Auch hier gilt es eine Reihe Missverständnisse auszuräumen.

Eine exemplarische Region für das Entstehen terroristischer Organisationen ist bekanntlich der Nahe Osten. Doch bei einem genaueren Blick auf die Verhältnisse dort können wir feststellen, dass Terrorismus und Islam nicht schon zwangsläufig in engem Zusammenhang stehen. Ohnehin weisen nahezu alle Guerilla-Organisa­tionen die Bezeichnung „Terrorismus“ als üble Verleumdung ihrer Gegner strikt von sich und sehen sich selber im „Freiheitskampf“. Hinzu kommt aber, dass sich palästinensische Kampforganisationen der vierziger bis sechziger Jahre noch nicht von einer religiös geprägten (oder religiös verbrämten) Ideologie leiten ließen, erst recht nicht von einer radikal-islamischen Motivation. 

Diese Organisationen wünschten ein säkulares Palästina. Sie waren arabische Nationalisten, die sich an den politischen Visionen des ägyptischen Revolutionsführers Gamal Abd al-Nasser sowie an den (halbwegs) säkularen Baath-Parteien Syriens und des Irak orientierten. (Das arabische Wort „Baath“ bedeutet „Wiedergeburt“ und bezieht sich auf das nationale Zusammengehörigkeitsgefühl der arabischen Völker). Zu den säkularen Nationalisten gehörte auch Yassir Arafat. Viele dieser Gruppierungen beriefen sich auf einen „arabischen Sozialismus“, dessen geistige Grundmuster letztlich aus dem Westen importiert sind. Kernpunkt ihrer Kritik und auch Feindschaft war und ist, dass sich die maßgebenden westlichen Staaten mit ihrer Nahostpolitik nicht an die eigenen proklamierten Werte von Freiheit sowie dem Selbstbestimmungsrecht der Völker halten und die Araber benachteiligen.

Gerade einer der radikalsten und gefürchtetsten Terroristen der siebziger und achtziger Jahre, Abu Nidal, äußerte sich in diesem Sinn. Abu Nidal demonstrierte stellvertretend für viele, dass der „Freiheitskampf“ oder „Terrorismus“ gegen westliche Staaten noch keineswegs eine radikale Abkehr von abendländischen Werten bedeuten muss. Anschaulich belegt dies eine Erklärung Abu Nidals 1985, nachdem der Islamismus im Nahen Osten bereits beträchtlich an Boden gewonnen hatte. Abu Nidal, der ja mit Terroraktionen auch in Österreich eine blutige Spur hinterließ, antwortete Journalisten des deutschen Nachrichtenmagazins Der Spiegel auf die Frage, welche Revolution ihm am meisten imponiere, ganz im Stil der säkulären Baath-Sozialisten: „Der politische Inhalt der Französischen Revolution ist überwältigend schön: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Uns als unterdrückten Menschen imponieren diese Maximen“ – „Und die Islamische Revolution?“ wurde Abu Nidal gefragt. Für den islamischen Fundamentalismus hatte der unversöhnliche Feind Israels und der USA nur ein Lachen übrig. 

Noch ein Beispiel, dass „Terroristen“ oder „Freiheitskämpfer“ der Frühzeit nichts mit radikal-islamischer Ideologie zu tun hatten: George Habbash, ebenfalls einer der gefährlichsten Terroristen in den siebziger und achtziger Jahren, war nicht einmal Muslim – sondern arabischer Christ. Und der Syrer Michel Aflak, der in den vierziger Jahren die arabisch-nationalistische Baath-Partei gegründet hatte und zum „Kampf gegen den westlichen Imperialismus“ aufrief, war ebenfalls Christ. Dies gilt genauso für Tarik Aziz, den ehemaligen Stellvertreter des despotischen Baath-Führers Saddam Hussein. Solche Sachverhalte zeigen, dass die antiwestliche Haltung radikaler Gruppierungen im Nahen Osten zuallererst politische – und nicht religiöse – Wurzeln hat. Daher wenden sich diese Radikalen auch nicht gegen das Christentum, solange die Kirchen sich aus den politischen Konflikten heraushalten.

Eine starke Akzentverschiebung hin zu politisch-religiöser Ideologie hat es bei „Terroristen“ oder „Freiheitskämpfern“ der islamischen Welt erst seit den späten sechziger Jahren gegeben. Der Umschwung hat ein exaktes Datum: Es war der sogenannte Sechstagekrieg im Juni 1967, als die (halbwegs) säkular orientierten Regierungen Ägyptens, Syriens, Jordaniens und des Irak die bisher schlimmste Niederlage gegen Israel hinnehmen mussten. Mit dieser Niederlage war bei vielen Muslimen das Vertrauen in die säkulare Ideologie grundsätzlich erschüttert, hatten doch alle Modernisierungskonzepte die Katastrophe nicht abwenden können. Jetzt erst vermochten islamistische Gruppierungen massenhaft Anhänger zu gewinnen. 1967 entstand im Westjordanland die sunnitische Bruderschaft „Hamas“ („Eifer“), die sich allerdings erst 1987 zu einer radikalen Kampforganisation formierte. Im Libanon bildete sich 1982 die schiitische Kampforganisation „Hisbollah“ („Partei Allahs“). Diese Gruppierungen formierten sich nach dem Vorbild der ägyptischen Muslim-Bruderschaft, die bereits 1928 gegründet worden war. Aber wie schon gesagt: Erst seit den siebziger und achtziger Jahren konnten derartige islamistische Organisationen erfolgreich mit säkular orientierten Widerstandsbewegungen konkurrieren und sie schließlich an Massenwirkung übertrumpfen. Erst dann ist auch das Ideal des religiös motivierten „Dschihad“ zu einem wichtigen Bestandteil des Kampfes gegen den Westen geworden. Ich kann hier nur am Rand erwähnen, dass der „Dschihad“ als „Heiliger Krieg“ lediglich in besonderen Krisenzeiten islamischer Geschichte aktiviert worden ist, dagegen in Zeiten großer politischer Stabilität eher eine geringe Rolle spielt.

Aber sogar radikal-islamische Dschihadisten mit ihrer ausgesprochenen religiös-politischen Orientierung sind keine unversöhnlichen Gegner des Christentums. Auch sie ehren Jesus als wichtigsten Propheten nach Mohammed, was ja der Koran vorschreibt. Zwar verurteilen sie „christliche Irrtümer“ des Glaubens, betonen jedoch andererseits die geistige Verwandtschaft des Christentums mit dem Islam. Ich habe immer wieder erlebt, dass Islamisten erklären, ein „gläubiger Christ“ sei ihnen trotz ihrer Vorbehalte immer noch lieber als ein „ungläubiger Muslim“. Ihr islamistischer Kampf richtet sich zuallererst gegen Muslime, die vom „richtigen Glauben“ abgefallen sind und sich vom „Unglauben“ des „Westens“ – von säkularer Ideologie – beeindrucken lassen. 

Starken Affekt gegen das Christentum als Religion zeigen am ehesten jene Muslime, die vom Radikalismus der Wahhabiten aus Saudi-Arabien beeinflusst sind – so auch Osama Bin Laden, so auch Scheich Omar, der einstige Führer der Taliban. Der letzter bezeichnete das Christentum ausdrücklich als „verabscheuungswürdige Religion“. 

Solche Sachverhalte lenken auf das Problem der Toleranz.

„Islamische“ und „moderne“ Toleranz 

Wie tolerant sind eigentlich Muslime? Und welches Rüstzeug für Toleranz liefert der Islam? Kann es einen Konsens mit unserem Verständnis von Toleranz geben? Am Ergebnis können wir ablesen, ob und inwieweit ein friedliches Zusammenleben zwischen Muslimen und Europäern möglich ist. 

Diese Frage stellt sich besonders dringlich angesichts der vielen muslimischen Zuwanderer in Europa. 1950 lebten erst rund 900.000 Muslime in europäischen Staaten, 2005 sind es rund 15 Millionen.

In Deutschland und Österreich beträgt hierbei der Anteil der Muslime an der Gesamtbevölkerung rund 4 Prozent, in Frankreich und Großbritannien sind es rund 5 Prozent.

Eine spannende Frage ist nun: Wie sieht es umgekehrt mit christlichen Minderheiten in islamischen Ländern aus?

In etlichen Staaten des Nahen Ostens ist der Anteil christlicher Minderheiten beträchtlich. Im Libanon sind rund 40 Prozent der arabischen Bevölkerung Christen, in Syrien rund 12 Prozent, in Ägypten rund 10 Prozent. Bei den Palästinensern, die über viele arabische Staaten zerstreut leben, macht der Anteil christlicher Minderheiten rund 15 Prozent aus. Sonst sind die Zahlen niedriger: In Jordanien rund 5 Prozent Christen, im Irak rund 2 Prozent, in der Türkei rund 1 Prozent.

Diese Zahlen sollten uns zu denken geben.

In einer Reihe islamischer Länder ist der Anteil andersgläubiger Minderheiten um das Drei- bis Fünffache höher als bei uns in Europa. Moscheen und Kirchen stehen oft in Sichtweite, was wir vor allem in Syrien, Jordanien, dem Libanon und Ägypten sehen können. Aber mehr noch: In Syrien sind Weihnachten und Ostern gesetzliche Feiertage auch für Muslime, in Ägypten Weihnachten. Dies ist eine ausdrückliche Geste der jeweiligen muslimischen Regierung gegenüber den christlichen Minderheiten. Umgekehrt hat in Deutschland der Vorschlag eines Politikers der Grünen beträchtliche Empörung ausgelöst, einen islamischen Feiertag als Geste gegenüber der muslimischen Minderheit einzuführen; laut Meinungsumfrage im November 2004 sind mutmaßlich rund 80 Prozent der Deutschen gegen eine solche Regelung. 

Unter islamischer Oberhoheit genießen Christen und Juden weitgehend Religionsfreiheit und ein beachtliches Maß an Bürgerrechten – dies schon seit dem 7. Jahrhundert. Christen und Juden konnten bereits im frühen Mittelalter an islamischen Universitäten studieren oder gar als Professoren lehren, teilweise konnten sie auch politische Ämter bekleiden. Umgekehrt wäre dies im christlichen Abendland bis ins 18. Jahrhundert herein undenkbar gewesen. Erst das Zeitalter der Aufklärung brachte für Andersgläubige in Europa zunehmend religiöse und bürgerliche Freiheiten. So besaßen gerade die Juden unter islamischer Herrschaft mehr Freiheit als im christlichen Abendland. 

Christen haben dagegen über viele Jahrhunderte Muslime in ihrem Herrschaftsbereich überhaupt nicht geduldet. Es gibt fatale Beispiele. Die Kreuzritter hatten, als sie 1099 Jerusalem eroberten, sämtliche Muslime getötet und ihre Moscheen zerstört. Und als die katholischen Spanier 1492 das letzte verbliebene maurische Fürstentum Granada eroberten, vernichteten sie ebenfalls alle Moscheen und zwangen die Muslime entweder zum Glaubenswechsel oder zur Auswanderung.

Bei einem Blick in die Vergangenheit erscheint es tatsächlich so, als ob Muslime um vieles toleranter seien als Christen.

Für die Gegenwart ist die Situation komplizierter. Besonders die politischen Verhältnisse im Nahen Osten zeigen neben auffälliger Toleranz ebenso auffällig gegenläufige Tendenzen. Im Libanon etwa tobte von 1975 bis 1990 ein verheerender Bürgerkrieg zwischen Muslimen und Christen. Und in der Türkei ist es zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu großen Massakern an Armeniern sowie zur Vertreibung von mehr als einer Million Griechen gekommen. Ohnehin ist die Lage jüdischer Minderheiten im Nahen Osten brisant.

Das alles habe nichts mit Religion zu tun, sondern mit Politik! So höre ich immer wieder von Muslimen. Und oft bestätigen arabische Christen einen derartigen Kommentar. Der notwendigen Kürze wegen kann ich die politischen Ursachen der Konflikte nur andeuten.

Im Libanon brach der Bürgerkrieg aus, weil die Mehrheit der Muslime sich durch die starke Minderheit der Christen politisch unterdrückt sah. Diese Situation war durch die französische Kolonialherrschaft im 19. und 20. Jahrhundert entstanden. Denn die Franzosen hatten den libanesischen Christen zur politischen Vormachtstellung verholfen, weil sie Verbündete zur Unterdrückung der Muslime brauchten. Der Affekt von Muslimen gegen libanesische Christen hat demnach zuallererst koloniale Wurzeln.

Auf politische Ursachen zurückzuführen sind auch die Konflikte zwischen den Türken und ihren christlichen Minderheiten, den Armeniern und Griechen. Die Armenier hatten unter islamischer Regierung sogar erheblich mehr Glaubensfreiheit genießen können als zuvor unter der Herrschaft christlicher Kaiser. Denn die Armenier waren von der byzantinischen Staatskirche als Ketzer geächtet und blutig verfolgt worden. Armenische Kirchen in Anatolien konnten also nicht unter christlicher, sondern erst unter osmanischer Herrschaft gebaut werden. Zu den Massakern an Armeniern und zur Massenvertreibung der Griechen kam es, als die Christen sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus der immer korrupter werdenden Herrschaft der Osmanensultane lösen wollten. Die Türken ließen sich bei ihren Sanktionen nicht von religiöser, sondern von nationalistischer Ideologie leiten – einer Ideologie, die aus dem Westen importiert worden ist. Armenier und Griechen sollten gezwungen werden, auf den Wunsch nach Unabhängigkeit zu verzichten. In diesem Zusammenhang muss betont werden, dass die Türken spätestens seit Atatürk einen ebenso erbitterten nationalistisch-motivierten Kampf gegen die Kurden führen. Die Kurden sind aber bekanntlich Muslime wie die Türken. 

Ausschließlich politische Ursachen hat auch der Konflikt in Palästina. Als 1948 der Staat Israel mit Hilfe westlicher Staaten gegründet wurde, entstand bei Muslimen eine heftige politische Feindschaft gegen Israel und etliche westliche Staaten – nicht eine religiöse Unduldsamkeit gegen das Judentum und Christentum. Bei den Palästinensern mit ihren 15 Prozent Anteil arabischer Christen ist religiöse Toleranz besonders gegenüber dem Christentum geradezu eine politische Notwendigkeit. So anfechtbar der muslimische PLO-Führer Yassir Arafat auch als autoritärer und zur Korruption neigender Präsident war, so unbestritten blieb seine weltoffene Haltung gegenüber dem Judentum und vor allem gegenüber dem Christentum. Viele Jahre hat es zum politisch-religiösen Ritual gehört, dass Arafat den Weihnachtsgottesdienst in Bethlehem besuchte (solange dies die israelische Regierung zuließ). Arafats muslimischer Nachfolger Mahmud Abbas hat 2004 ebenfalls dem Weihnachtsgottesdienst in der Geburtsstadt Jesu beigewohnt. 

Jüdische Minderheiten werden allerdings in vielen Nahoststaaten schikaniert – nicht jedoch wegen ihres Judentums, sondern weil sie oft pauschal der Komplizenschaft mit Israel verdächtigt werden. Inzwischen findet zwar bei Muslimen auch schon ein Antisemitismus nach westlichem Vorbild Anhänger, aber nur bei einer Minderheit. Je weiter ein islamischer Staat vom Konfliktherd Nahost entfernt ist, um so mehr bleibt die traditionelle Toleranz gegenüber Juden intakt. In Marokko ist gar ein marokkanischer Jude, der Bankier André Azoulay, ein wichtiger Berater des Sultans Mohammed VI. (und er ist es zuvor schon für Hassan II. gewesen).

Auf welchen Voraussetzungen beruht nun bei Muslimen die Toleranz gegenüber Christen und Juden?

Toleranz erwächst bei Muslimen aus dem Bewusstsein, dass die drei Weltreligionen Islam, Judentum und Christentum sehr viel Gemeinsamkeiten haben. Bekanntlich verehren ja die Muslime ebenfalls Abraham und andere jüdische Propheten – vor allem aber Jesus. Mohammed als der abschließende Prophet steht allerdings an der Spitze der Hierarchie. Ein Konfliktpunkt und eine Gemeinsamkeit zwischen Muslimen und Christen erscheint in diesem Zusammenhang besonders bemerkenswert. Die Muslime verurteilen an den Christen, dass sie Jesus für den „Sohn Gottes“ und den „Erlöser der Menschheit“ halten. Aber andererseits stimmen Muslime der Lehre Jesu zu, dass alle Gläubigen vor Gott gleichberechtigt seien, unabhängig von Rasse und sozialer Herkunft, und dass sich alle Menschen in Nächstenliebe verbunden fühlen sollten. Idealtypisch sind also Muslime wie Christen antirassistisch und dem Geist der Nächstenliebe verpflichtet. Und gerade weil der Islam Judentum und Christentum als Vorläufer-Religionen anerkennt, räumt der Koran den Juden und Christen unter den „Ungläubigen“ eine Sonderstellung ein. Juden und Christen dürfen nicht mit Gewalt zum Islam bekehrt, sondern nur friedlich überzeugt werden. Beharren diese Andersgläubigen aber auf ihrer Überzeugung, muss man sie respektieren. (Koran 9:6 und 17:9) Die Muslime haben also – verglichen mit den Christen des Mittelalters – eine vergleichsweise große Offenheit bewiesen. Trotzdem ist islamische Toleranz nicht nach unserem Verständnis liberal. Wir müssen klar die Unterschiede definieren zu jener modernen Toleranz, wie sie Europäer im Zeitalter der Aufklärung entwickelten. 

Wo findet die Offenheit der Muslime ihre Grenzen? Eindeutig ist im Koran der weite Abstand zu anderen Glaubensrichtungen festgeschrieben: „Er (Gott) ist es, der seinen Gesandten (Mohammed) mit der wahren Religion geschickt hat, damit er dieselbe über alle Religionen erhebe“. (Koran 9:29)

Islamische Toleranz kann nicht in unserem Sinne „modern“ sein, denn sie hat nicht einen pluralistischen Staat als Garanten, in dem unterschiedliche religiöse und weltanschauliche Gruppierungen gleichberechtigt nebeneinander stehen. Ein orthodoxer Muslim vermag einem geistesverwandten Andersgläubigen zwar mit Verständnis und Sympathie zu begegnen, aber niemals im Bewusstsein der Gleichrangigkeit. Insofern kann es für ihn auch nur den „islamischen“ Staat, kann es nur den Islam als klar übergeordnete „Staatsreligion“ geben. In den meisten islamischen Staaten ist dies bis heute so – wenn es auch markante Gegenbeispiele gibt. Die Türkei hat ja 1928 eine strikt laizistische Verfassung eingeführt, und Indonesien, der Staat mit der zahlenmäßig größten muslimischen Bevölkerung, hat in seiner Verfassung von 1959 den nichtmuslimischen Bürgern (Hindus, Buddhisten, Christen) gleiche Rechte zugebilligt.

Die meisten Muslime können bis heute andere Religionen und Glaubensbekenntnisse nur „dulden“. Damit sind sie „tolerant“ im ursprünglichen Sinne jenes Wortes, das die Europäer während des 17. Jahrhunderts – bereits im Zeichen beginnender Aufklärung – aufgebracht haben. Der Begriff Toleranz ist abgeleitet vom lateinischen „tolus“ (Last). „Tolerare“ bedeutet demnach eigentlich: fähig zu sein, eine körperliche, geistige oder seelische „Last“ zu „ertragen“. So fordert die ursprüngliche Vorstellung von „Toleranz“ zu wenig, um sich mit dem Artikel 1 der Allgemeinen Menschenrechte zu decken: Gleichheit und Brüderlichkeit jenseits aller religiösen, weltanschaulichen und ethnischen Schranken. Bereits Goethe hat die großzügig erscheinende bloße „Duldung“ fremder Religionen kritisiert: „Toleranz sollte eigentlich eine vorübergehende Gesinnung sein; sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.“ 

Die islamische Toleranz war zwar der christlichen Toleranz des Mittelalters weit überlegen. Aber sie steht heute erst da, wo die Christen zur Zeit der Aufklärung mit ihrer herablassenden Toleranz gegenüber dem Islam gestanden haben. Muslime müssen noch den weiteren Schritt tun, den bei uns ein Teil der Europäer auch erst während des 20. Jahrhunderts voll und ganz getan hat: Muslime müssen sich in ihrer Mehrheit stärker im Sinn eines pluralistischen Verständnisses von Gesellschaft und Religion modernisieren, sie müssen neben anderen Religionen ebenso den Atheismus als Weltanschauung respektieren.

Erste Anzeichen einer solchen Entwicklung gibt es, gerade auch im deutschen Sprachraum. Ich zitiere stellvertretend für andere Beispiele aus einer Informationsbroschüre der Muslime in Mannheim, die dort 1995 eine große Moschee im Stadtzentrum erbaut haben: „Wir leben in dieser Stadt und teilen aus diesem Grund ihre Gesellschaftsordnung und ihre politischen Grundwerte. Begriffe wie Demokratie und Menschenrechte sind Bestandteil unseres alltäglichen Lebens geworden. Sie sind voll und ganz mit unserer Religion vereinbar“.

Inzwischen wurde auch schon eine öffentliche Erklärung auf allgemeiner Ebene gegeben. Am 15. Juni 2003 verabschiedete die „Konferenz der Leiter islamischer Zentren und Imame in Europa“ während einer Tagung in der österreichischen Universitätsstadt Graz eine Resolution mit der Kernbotschaft: Die in Europa lebenden Muslime bekennen sich zu Demokratie, Pluralismus und den Menschenrechten. Rund 100 führende Repräsentanten islamischer Gemeinden gaben damit den Muslimen wie Nichtmuslimen zu verstehen, islamische und europäische Identität bedeute keinen Widerspruch. Im Islam sei keine Bestimmung vorhanden, die die Muslime daran hindere, die Gesetze eines nicht-islamischen Staates loyal zu befolgen. Außerdem erteilten die Konferenzteilnehmer eine klare Absage an jede Form von Fanatismus und Extremismus.

Ergänzend zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang, dass am 25. November 2004 rund 25.000 Muslime, überwiegend deutsche Staatsbürger türkischer Herkunft, in Köln eine Massendemonstration gegen jede Form von Extremismus und erst recht Terrorismus veranstalteten. Es war in Deutschland  die erste Massendemonstration dieser Art.

Solche Bekenntnisse zu Demokratie und Pluralismus sind eindrucksvolle Absichtserklärungen. Bis sich die meisten der bei uns lebenden Muslime damit identifizieren, dürfte es allerdings noch eine Zeitlang dauern. Aber man sollte die Bereitschaft dazu nicht unterschätzen, schließlich bietet der Koran – nicht anders als die Bibel – genug Ansätze, eine demokratische Gesellschaftsordnung zu bejahen. Auch sollten wir nicht vergessen, dass wir Europäer unsere Errungenschaften von Demokratie und Pluralismus ebenfalls nicht innerhalb weniger Jahre zuwege gebracht haben. Entscheidend ist, dass Muslime Demokratie und Islam prinzipiell für vereinbar halten.

An dieser Stelle darf ich daran erinnern, dass in Europa viele kirchliche Machthaber lange Zeit Demokratie und Liberalismus sogar als unvereinbar mit „christlichen Werten“ angesehen haben – so noch 1864 Papst Pius IX. ausdrücklich in seiner Streitschrift Syllabus, in der er Stellung gegen „die hauptsächlichen Irrtümer unserer Zeit“ bezog. Unselige Bündnisse zwischen Kirchen und Diktaturen hat es sowieso bis ins 20. Jahrhundert herein gegeben – gerade auch in Deutschland und Österreich.

Die Integration muslimischer Zuwanderer in die westliche Gesellschaft sehe ich optimistisch. Zwar dürfen wir die Gefahr nicht unterschätzen, dass ein Teil der muslimischen Zuwanderer in Europa Schwierigkeiten mit der Integration hat und dazu neigt, sich in Parallelgesellschaften gegen unsere westlichen Gesellschaften abzuschotten. Aber hier müssen wir selbstkritisch die Frage stellen, ob Deutschland, Österreich, Frankreich und andere Staaten überhaupt schon günstige Rahmenbedingungen für eine bestmögliche Integration geschaffen haben. Abschottungstendenzen gegen das Fremde und Ungewohnte gibt es ja umgekehrt auch bei Europäern – und dazu passend populistische Politiker, die diese Situation für ihre Zwecke ausnutzen. Ohnehin besteht das Problem der Integration nicht nur bei muslimischen Zuwanderern. Konflikte entstehen zunächst mit jeder fremden Kultur. Wir sollten schon aus diesem Grund nicht vorschnell von einer „Bedrohung Islam“ reden.

Droht ein Kampf der Kulturen?

Vor dem Hintergrund einer solchen Entwicklung möchte ich noch einmal auf das vielstrapazierte Schlagwort vom „Kampf der Kulturen“ – auch auf das problematische Buch gleichen Namens – zurückkommen. Nach den Thesen des Autors Samuel Huntington bildet ja die islamische Welt politisch und religiös-kulturell weitgehend einen geschlossenen Block gegen die westliche Welt. Mehr noch: Laut Huntington rüsten die Muslime zu einem globalen Krieg gegen das Abendland, denn das eigentliche Problem seien ja nicht verschiedene radikale Gruppierungen, sondern „der Islam selbst“. Falls der Westen weiterhin unentschlossen bleibe, drohe große Gefahr.

Wie realistisch sind solche Prognosen? Betrachten wir als exemplarische Beispiele einige Staaten, die immer wieder mit Negativschlagzeilen Furore machen. Gutes Anschauungsmaterial für dieses Problem bietet besonders Afghanistan. Jenes Land galt ja eine Zeitlang als eine Zentrale des antiwestlichen Terrorismus. Falls wir die Schlagworte der Taliban sowie von Osama Bin Laden für bare Münze nehmen – dann allerdings müssen wir glauben, dass der Islam in einer monolithisch geschlossenen Front gegen das christliche Abendland, gegen den Westen, mobil macht und die ganze Welt dem Islam unterwerfen will. Aber sehen wir uns doch die letzten drei Jahrzehnte der afghanischen Geschichte genauer an, dann bietet sich eine völlig andere Wirklichkeit. Nur im Kampf gegen die sowjetische Besatzungsmacht hatten sich die einzelnen afghanischen Stämme als „Mudschaheddin“ („Glaubenskämpfer“) zu einer Einheit zusammengeschlossen. Kaum waren jedoch 1988 die sowjetischen Truppen abgezogen und war 1991 das pro-sowjetische Regime in Kabul vollends vertrieben, zerbrach auch schon wieder die Einheit. Nachdem der gemeinsame Feind fehlte, dominierten bei den afghanischen Stämmen wieder die früheren konfessionellen und ethnischen Gegensätze von Sunniten und Schiiten, von Paschtunen, Usbeken, Tadschiken. Entsprechend waren sogar die einzelnen fundamentalistischen Gruppierungen aufgesplittert. Und bald tobte der Bürgerkrieg unter den Afghanen – nun zerstritten über die Frage, welcher Stamm und welche Glaubensrichtung in einem „islamischen Staat“ mehr oder weniger Einfluss ausüben durfte. Ähnlich aufgespaltet ist Afghanistan auch wieder, nachdem 2001 die Schreckensherrschaft der Taliban geendet hat.

Das jüngste und aktuellste Beispiel einer politischen Zerrissenheit unter Muslimen bietet der Irak. Nur auf den ersten Blick sieht es so aus, als ob der Widerstand gegen die amerikanische Besatzung einheitlich gesteuert sei: Genauer betrachtet setzt sich der Widerstand aus sehr unterschiedlichen rivalisierenden Gruppierungen zusammen. Bekanntlich leidet der Irak schon seit Jahrzehnten unter starken Spannungen zwischen arabischen Sunniten, kurdischen Sunniten, arabischen Schiiten – und diese Spannungen sind noch überlagert durch den schroffen Gegensatz zwischen säkularen Ideologen und Islamisten. Der Diktator Saddam Hussein war beschäftigt genug, dieses in sich zerrissene Land durch seine brutale Gewaltherrschaft zusammenzuhalten. Für außenpolitische Aktivitäten blieb ihm kaum noch Spielraum; darüber konnte auch seine betont kriegerische Rhetorik nicht hinwegtäuschen.

Der Iran bietet ebenfalls ein Bild tiefer Zerrissenheit. Dabei handelt es sich ausgerechnet um jenen Staat, der nach dem Sieg der islamischen Revolution 1979 unter Ayatollah Khomeini oft als Speerspitze eines aggressiv vordringenden Islam angesehen wurde. Aber inzwischen ist dort die fundamentalistische Einheitspartei  in einen radikalen und einen gemäßigten Flügel gespalten, und dieser Gegensatz hat im islamistischen Lager selber schon zu blutigen Auseinandersetzungen geführt. Ohnehin befindet sich der schiitische Gottesstaat Iran in tiefer Feindschaft zum sunnitischen Gottesstaat Afghanistan. Also nicht einmal unter den Fundamentalisten kommt es zu einer Einheit. Wie also sollte eine geballte aggressive islamische Macht gegen den Westen marschieren?

Betrachten wir zum Vergleich die eigene Geschichte. Die schrecklichsten Kriege, die wir erlebt haben, wurden keineswegs gegen eine fremde Kultur wie den Islam geführt – viel schlimmer als die Kreuzzüge oder die Türkenkriege war der Dreißigjährige Krieg, und er wurde bekanntlich als sogenannter Glaubenskrieg unter Christen ausgefochten. Im säkularen Zeitalter dann die beiden Weltkriege. Fazit also: Christen waren bisher den Christen die schlimmsten Feinde – ebenso wie Muslime den Muslimen. So gesehen müsste man Huntingtons Titel „Kampf der Kulturen“ abwandeln in „Kampf innerhalb der Kulturen“.

Im Verlauf der Jahrhunderte ist es auch immer wieder zu religionsüberschreitenden Bündnissen in der Politik gekommen. Das gilt sogar für die Kreuzzüge. Damals hatten sich etliche muslimische Fürsten mit den Kreuzrittern gegen andere muslimische Fürsten verbündet, weil ihnen die eigenen Glaubensbrüder politisch gefährlicher erschienen als die sogenannten Ungläubigen. Und bei der Türkenbelagerung in Wien 1683 kämpften auf Seiten der Türken protestantische Ungarn (die „Kreuztürken“) gegen die katholischen Habsburger. Denn die Osmanensultane gewährten den Protestanten Religionsfreiheit, die Habsburger taten dies nicht. Der Affekt wirkt in Österreich nach: Von den „Kreuztürken“ wird das Schimpfwort „Kruzitürken“ abgeleitet. 

Für die Gegenwart gibt es genug ähnliche Beispiele. Ich erinnere nur an den Golfkrieg von 1991, wo eine Reihe muslimischer Staaten an der Seite der USA und Europas Front gegen den Irak bezog.

Soviel zum sogenannten Kampf der Kulturen. Die monolithisch abgeschotteten Blöcke von Islam und Abendland existieren nicht. Vielmehr gibt es zahlreiche Schattierungen und Übergänge.

Kulturelle Arroganz und Rückständigkeit

Kommen wir zum Abschluss noch kurz auf ein weiteres Klischee zu sprechen, das den Islam von der westlichen Welt zu trennen scheint: Wer Islam sagt, meint rückständig.

Auf den ersten Blick ist diesem Vorurteil schwer zu widersprechen. Kaum ein muslimisches Land hat es in unserem Jahrhundert geschafft, wirtschaftlich das Niveau eines sogenannten „Entwicklungslandes“ zu überwinden, kaum einer dieser Staaten kennt ein weitgefächertes Bildungssystem und eine demokratische Verfassung. Aber wenn wir für diese Rückständigkeit prinzipiell den Islam als Religion und Kultur verantwortlich machen wollen, dann muss uns ein Blick in die Vergangenheit beträchtlich irritieren. Noch zu Beginn des Hochmittelalters zeigte sich der islamische Orient dem christlichen Abendland kulturell weit überlegen; in muslimischen Städten befanden sich überwiegend die besseren Bibliotheken und Universitäten, dachten Philosophen und Wissenschaftler fortschrittlicher, entfalteten sich Kunst und Architektur reichhaltiger, waren die Bürger im Durchschnitt gebildeter, war der Lebensstandard höher, war die medizinische Versorgung besser. Gegen die hochentwickelte Stadtzivilisation des Islam konnte das Europa von damals – würden wir einen Begriff von heute gebrauchen – überwiegend nur als ein riesiges „Entwicklungsland“ erscheinen.

Kaufleute und Kreuzritter des christlichen Mittelalters mussten sich bei ihrer Begegnung mit dem islamischen Orient zutiefst verunsichert fühlen. Irritiert stellten sich gerade die Gebildeten die Frage, wie es Gott denn zulassen könne, dass die „Heiden“ mit ihrer „falschen“ Religion den Christen in vielerlei Hinsicht überlegen seien. Dieser christliche Schock von damals entspricht in etwa dem islamischen Schock von heute. Umgekehrt sehen sich nun die Muslime einer Identitätskrise ausgesetzt. Sie, die sich zwar im Besitz der „richtigen“ Religion glauben, müssen sich fragen, wieso plötzlich Andersgläubige mit einer überlegenen Zivilisation triumphieren können.

Weder der Islam noch das Christentum lassen sich direkt für zivilisatorischen Fortschritt oder Rückschritt verantwortlich machen. Und wenn wir es trotzdem versuchen, entdecken wir in beiden Religionen ein nahezu gleich großes Potential an Entwicklungs- und Einflussmöglichkeiten auf das kulturelle Leben: im Guten wie im Schlechten.

Vergleichen wir die wichtigsten geistigen und politischen Weichenstellungen islamischer wie abendländischer Geschichte miteinander, stellen wir fest, wie ähnlich sich die beiden rivalisierenden Großräume zumindest im Grundsätzlichen sind. Gerade die geistige Verwandtschaft hat die unerbittliche Rivalität bedingt. Erst wenn wir bereit sind, diese komplizierte Realität anstelle der gewohnten Feindbilder wahrzunehmen, können wir den Dialog beginnen.

Die Thesen dieses Essays entnahm der Autor weitgehend seinem Buch Islam und Abendland. Geschichte eines Dauerkonflikts (2003, erweiterte und aktualisierte Neuauflage, erschienen im Verlag Klett-Cotta, Stuttgart).

Gerhard Schweizer, geb. 1940 in Stuttgart, promovierte an der Universität Tübingen in Empirischer Kulturwissenschaft. Er lebt als freier Schriftsteller in Wien. 

Referat vom 11. März 2005, in gekürzter Fassung erschienen in Der Hammer, Die Zeitung der Alten Schmiede, Österreich

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