Seit vielen Jahren gibt es hauptsächlich in Bayern viel Streit um den Zustand des Waldes. Kritisiert wird von einflussreichen Leuten der besorgniserregende Schaden, den das Schalenwild, hauptsächlich Rehe aber auch Hirsche, angeblich im Wald anrichten. Rehe verbeißen unter bestimmten Umständen gerne die frischen Triebe junger Forstpflanzen und Hirsche schälen, wenn sie dazu ernährungsmäßig gezwungen werden, die Rinde im Baumalter ab.
In Bayern hat man sich im Ministerium für Landwirtschaft und Forsten die Lösung des so genannten Wald/Wild-Problems in Bezug auf das Rehwild einfach vorgestellt. Man beauftragte einen Gutachter, ein Verfahren zur Ermittlung der Wildschäden zu entwickeln – das so genannte Vegetationsgutachten (zu finden unter forst.bayern.de). Dieses Verfahren etablierte man 1986 und besaß somit – so dachte man wohl - eine einfache Methode, um die „guten“ von den „bösen“ Jägern zu unterscheiden. Letztere sind nach Meinung vieler Naturschützer und so genannter Ökojäger (die in dem kleinen aber lautstark auftretenden Ökologischen Jagdverein organsiert sind), aber auch in den Augen von vielen Forstbeamten und Forstwissenschaftlern aus dem Zentrum Wald-Forst-Holz in Weihenstephan in der Überzahl. Die Folge ist ein seit Jahren andauernder Grabenkrieg, der in den letzten Monaten eskalierte (s. z.B. MM vom 10. März 2010 oder SZ vom 06. Mai 2010). Hinter den Kulissen jagt ein Treffen von mehr oder weniger profilierten Verbandsmitgliedern das andere. Wissenschaftler bringen ein Gutachten nach dem anderen heraus und – so unwahrscheinlich es klingen mag - sogar der Verband der Höheren Verwaltungsbeamtinnen und Verwaltungsbeamten in Bayern e.V. mischt sich ein.
Die wissenschaftlich-statistische Grundstruktur des Vegetationsgutachtens wurde von Anfang an massiv kritisiert und zwar nicht nur vom Bayerischen Jagdverband, sondern auch von einigen Wissenschaftlern. Zuvorderst von dem kürzlich verstorbenen, bedeutenden Ökologen und Biogeographen Prof. Paul Müller. Die Kritik konzentrierte sich im Wesentlichen auf die praktische Bedeutung der Datensammlung und auf ihre wissenschaftliche Qualität. Die praktische Bedeutung für die Abschussplanung ist nahezu Null, da das Gutachten nichts über die Revierebene aussagt, auf der die Abschussplanung stattfindet. Es gilt nur auf der Ebene der Hegegemeinschaft, die mehrere Reviere umfasst. Es kann also ohne weiteres in einer durchschnittlich ‚schlechten‘ Hegegemeinschaft ein Revier mit vorbildlichen Verbissprozenten vorkommen. Aus dem Vegetationsgutachten wäre das nicht ersichtlich. Die Qualität der Daten ist außerdem wissenschaftlich erheblich unter dem modernen Standard, da keine Stichprobenfehler angegeben werden können. Niemand vermag zu sagen, ob zum Beispiel die Schwankungen von einer Aufnahme zur nächsten drei Jahre später reine Zufallsschwankungen sind oder ob sie tatsächliche Vorgänge in der Natur widerspiegeln.
Nachdem die Auftraggeber des Vegetationsgutachtens in Argumentationsnot gerieten, gaben sie in Freising ein Gutachten zum Vegetationsgutachten in Auftrag. Vier Professoren um den Freisinger Leiter der Abteilung für Forstinventur und nachhaltige Nutzung, Thomas Knoke, verfassten ein Gefälligkeitsgutachten für die Forstbehörde, - man kann es leider kaum anders bezeichnen -, in dem das Vegetationsgutachten als objektives Maß für die Ermittlung der Verbissschäden gelobt wird. Sollte es sich tatsächlich um ein Gefälligkeitsgutachten für die Ministerialbürokratie handeln, ist der TU-Präsident gefragt, denn Wissenschaftler seiner Institution sollten, wie in allen akademischen Instituten, ausschließlich der Wahrheit verpflichtet sein, - sicher nicht den Forstbehörden oder gar dem Zeitgeist. Letzteres scheint allerdings langsam zur Gewohnheit zu werden: siehe Waldsterben, Artensterben, Klimawandel. In allen drei Gebieten agieren theoretisch der Objektivität verschriebene, vom Steuerzahler bezahlte Akademiker als Meinungsmacher und Propagandisten des Zeitgeists.
Paul Müller rief bei diesem Stand der Dinge einen kleinen Arbeitskreis ins Leben, in dem auch Professor Knoke mitwirkte und erstmals ein Statistiker, Thorsten Hothorn, von der LMU München. Der gemeinsam verfasste Bericht ( zu finden unter jagd-bayern.eu(PDF)leider existiert die Originalfassung nicht im Internet) machte deutlich, dass das Gutachten zum Gutachten nicht so objektiv war, wie es zu sein vorgab. Thomas Knoke musste eingestehen, dass Daten ohne jegliche Angabe von zufälligen Streuungen kaum eine Bewertung erlauben. Vielen Beobachtern scheint dies nicht bewusst zu sein, da sie das alle drei Jahre neu erfasste Auf und Ab der Verbissprozente wie ein Evangelium zur Kenntnis nehmen und kommentieren. Dass das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Behörde in Bayern nicht ganz den Vorstellungen einer seit Jahrhunderten etablierten wissenschaftlichen Ethik entspricht, wurde durch Vorfälle (zu finden unter wald-wild-mensch.de(PDF)) im Zusammenhang mit dem eben genannten Arbeitskreis besonders deutlich. Die beiden Münchner Professoren Knoke und Hothorn wurden unter dubiosen Umständen vor der letzten Sitzung des Arbeitskreises abgezogen.
Es wird nach diesen Vorgängen niemanden überraschen, dass die Auseinandersetzung damit nicht zu Ende war. Professor Knoke hatte während des eben beschriebenen Gutachterrennens schon wieder einige Koautoren um sich versammelt, diesmal auch einen Juristen, um im Auftrag des Bundesamts für Naturschutz, der Arbeitsgemeinschaft für Naturgemäße Waldwirtschaft, des Deutschen Forstwirtschaftsrats und einer großen privaten Forstverwaltung eine Art magnum opus des Wald/Wild-Konflikts (zu finden unter oejv.de(PDF)) zu verfassen. Dem hohen Anspruch wird die voluminöse Arbeit aber nicht einmal annähernd gerecht. Es wird zwar zugestanden, dass die Statistik des Vegetationsgutachtens mangelhaft ist, aber ansonsten werden fast alle fragwürdigen bis fehlerhaften Argumente wiederholt und noch ein paar hinzugefügt.
Insbesondere ist man sich nicht zu schade, die gängigen Klischees unseres Zeitgeists zu bedienen. Jetzt gefährden die Rehe sogar die Biodiversität im Wald. Es erübrigt sich festzustellen, dass dazu keine handfesten Daten beigebracht werden, außer solchen aus gezäunten Gebieten mit extrem hohen Wildständen, wie sie in Deutschland kaum irgendwo anzutreffen sind. Dafür eignet sich das Schlagwort aber umso besser als Totschlagargument vor einem Laienpublikum. Wer wollte schon die Biodiversität gefährden außer völlig verantwortungslose Jäger?
Übrigens wurde der Begriff von dem genialen biologischen Multitalent Edward O. Wilson extra für propagandistische Zwecke geschaffen (s.Takacs amazon.co.uk(Buch)). Er hatte vor der legendären UN-Umweltkonferenz in Rio de Janeiro 1992 dieses griffige Schlagwort eigens zur leichteren Einstimmung der Öffentlichkeit auf die Probleme des Naturschutzes kreiert. Seine berechtigte Sorge galt allerdings den tropischen Urwäldern und nicht unseren Wirtschaftswäldern der gemäßigten Zone. Das hat man geflissentlich übersehen und den Naturschutz in den Industrienationen zu einem Multi-Millionen-Euro-Unternehmen aufgeblasen. Würde man eine Kosten/Nutzen-Rechnung erstellen, sähe das Ergebnis ziemlich düster aus. Allerdings ist es in den Augen moderner Gutmenschen ein Sakrileg, Naturschutzmaßnahmen mit einer Kosten/Nutzen-Rechnung zu belasten.
Das zweite Klischee, das man heutzutage bedienen muss, wenn man eine Duftmarke im Blätterwald setzen will, ist die globale Erwärmung. Wie der Leser jetzt schon vermutet, gefährden die Rehe in den Augen ihrer akademischen Feinde die zukünftige Wirtschaftlichkeit der Wälder, da sie diese entmischen und nur gemischte Waldungen können den Klimastress bewältigen und somit auch die wirtschaftliche Sicherheit der Waldbesitzer gewährleisten. Empirische Beweise für diese Befürchtung: Fehlanzeige. Sollte sich in einem gemischten Wald eine wärmeintolerante Baumart aufgrund der erhöhten Temperatur verabschieden, so die simple Argumentation, bleiben dem Waldbauern einige andere, die den Wald und das Geschäft aufrecht erhalten,. Thomas Knoke stellt sich das wie ein Portfolio eines Anlegers bei einer Bank vor (z.B.hier). Der Vergleich hinkt allerdings gewaltig, da die Anlagearten Buche und Fichte etc. jeweils viele Jahrzehnte bis zur endgültigen Realisierbarkeit des Vermögens benötigen. Für die weit verbreitete Annahme, dass in Zukunft Laubhölzer die Fichten in ihrer wirtschaftlichen Bedeutung einholen oder gar überholen könnten, gibt es keinerlei Hinweis, es handelt sich um einen reinen Glaubensartikel mit sehr geringer Plausibilität
Alles spricht dafür, dass die Fichte der unbestrittene Brotbaum unserer Breiten bleiben wird. Sollte sie sich dort wirklich klimabedingt verabschieden, bricht eher die Forstwirtschaft zusammen, als dass Laubbaumarten die wirtschaftliche Lücke schließen könnten. Grundsätzlich waren und sind fast alle Waldflächen Bayerns Mischwälder und niemand mit forstlicher Erfahrung ist kategorisch gegen das Konzept Mischwald. Es geht bei diesen Diskussionen eigentlich immer nur um die Prozentsätze, die die einzelnen Baumarten einnehmen sollen, obwohl das selten deutlich gemacht wird. 30 Prozent Laubholz wurden früher als erstrebenswert angesehen. Lässt man 30% Buche zu, ist man größenordnungsmäßig bei 50% Laubholz und Tanne. Das bedeutet schon ein erhebliches wirtschaftliches Risiko, da weder Tanne noch Buche vergleichbare Erlöse wie die Fichte bringen. In den Bayerischen Staatsforsten, die seit der Reform nach wirtschaftlichen Kriterien geführt werden, führte dieses ökonomische Ungleichgewicht zwischen unseren Hauptbaumarten 2009 zu folgendem Missverhältnis beim Holzverkauf (siehe forst.bayern.de(PDF)): Obwohl die Fichte im Staatsforst derzeit auf der gesamten Fläche einen Anteil von rund 45% und die Buche von 16% aufweist, war der Anteil der Fichte am Gesamtumsatz 81,5% und der der Buche nur 2,69%.
Förster fällen bei der Bestandesgründung Entscheidungen, deren Bewertung erst rund 100 Jahre später möglich wird. Momentan stellt sich die wirtschaftliche Bedeutung unserer Hauptbaumarten Buche und Fichte folgendermaßen dar: In den letzten 3 Jahrzehnten eines enormen gesamtwirtschaftlichen Wachstums ging in Deutschland der Einschnitt an Buchenholz in den Sägewerken um ca. 40% zurück. Der Einschnitt an Fichtenholz hat sich im selben Zeitraum verdreifacht. In den letzten beiden Jahren war die Buche in Deutschland praktisch unverkäuflich. Nur als Brennholz findet sie noch Absatz. Darüber findet man kein Wort in dem ‚ultimativen‘ Gutachten. Die Fichte hat sogar den Unbillen des Finanzmarktes der letzten Jahre widerstanden. Wir sollen aber die Buche nach Herrn Knoke fördern und die Fichte reduzieren, da sie als wärmeintolerant angesehen wird und wir damit unser ‚Portfolio‘ schwächen. Außerdem ‚wissen‘ wir ja alle, dass die Fichte allen möglichen Wetterextremen gegenüber sehr empfindlich reagiert. Sie fällt den Stürmen, den Insekten und Pilzen leichter zum Opfer als andere Baumarten.
Niemand spricht aber über die Tatsache, dass die Fichte von Generationen von Förstern und Waldbesitzern sträflich misshandelt worden ist. Man hat falsches Pflanzmaterial mit fragwürdigen Pflanzmethoden an falschen Standorten eingesetzt und man hat die Bäume selten so gepflegt, dass sie ausreichende Kronen bilden konnten. Das gilt für die öffentlichen Wälder ebenso wie für die privaten und kommunalen. Bei fast jeder Fahrt auf einem neuen Autobahnabschnitt, der ehemals geschlossene Waldbestände durchschneidet, kann man das auch als Laie beobachten. Dünne, lange Stämme mit einem kleinen grünen Fähnchen am Gipfel. So kann kein gesunder Baum aussehen, dessen Atmungsorgan die grünen Nadeln oder Blätter sind. Ein gesunder Nadelbaum hat auf der halben Stammlänge grüne Äste. Trotzdem hat die ganze Branche seit gut 100 Jahren, abgesehen von kurzen Preistälern, blendend mit der Fichte verdient. Wieso der Markt irgendwann zwischen 2080 und 2120 plötzlich die Buche bevorzugen sollte, hat noch niemand plausibel darstellen können.
Die Strategie des Wartens auf eine geänderte Nachfrage genau dann, wenn man sie für sein Produkt braucht, entspräche ungefähr einem Automobilproduzenten, der ein Auto, das heute kaum gekauft wird, trotzdem hurtig weiter produziert, mit dem Argument, dass sich die Käufer vermutlich dafür erwärmen werden, wenn es massenweise auf Halde produziert worden ist.
Das Standard- und Massenprodukt war immer die Fichte und alles spricht dafür, dass das auch so bleiben wird. Ihr Holz eignet sich im Gegensatz zu dem der Buche ideal für Konstruktionszwecke. Trotzdem sei nicht in Abrede gestellt, dass es Regionen in Deutschland gibt, in denen Regenmangel und ungeeignete Böden, aber auch fehlendes Interesse der Waldbesitzer zu kränkelnden Fichten führen. Anstatt diese Regionen zu nennen und den jeweiligen Umständen angepasste Strategien zu entwickeln, wird pauschal gegen die Fichte polemisiert. Auch die Jäger tragen vielerorts zur Verschlechterung der Verbisssituation bei, wenn sie zum Beispiel im Frühjahr, wenn die Wiesen schon im Saft stehen und im Wald noch wenig energiereiche Nahrung sprießt, auf den Wiesen die Rehe abschießen. Das zwingt das Wild dazu, zumindest bis zur Dunkelheit im Wald zu bleiben und dort Nahrung zu suchen. Als Wiederkäuer benötigen sie alle paar Stunden möglichst frisches Grün.