Bayerisch-tschechische „Stromautobahn“: 24 Stunden pro Tag unter Höchstspannung

Bayerisch-tschechische „Stromautobahn“: 24 Stunden pro Tag unter Höchstspannung
Als einzige Schnittstelle zwischen dem süddeutschen und dem tschechischen Stromnetz verbindet die 380-Kilowatt-Höchstspannungsleitung zwischen dem ostbayerischen Umspannwerk Etzenricht (Landkreis Neustadt an der Waldnaab) und dem böhmischen Pendants in Hradec und Prestice die Stromwelten zweier Länder. Der vordere Strommast steht in Deutschland, der hintere in Tschechien. Foto: ce-press/Wikipedia
Waidhaus (ce-press - internet-zeitung) – Seit die Grenzkontrollen zwischen Deutschland und Tschechien an Deutschlands größtem Grenzübergang ins böhmische Nachbarland weggefallen sind, macht kaum einer der jährlich zwei Millionen Auto-, 40.000 Bus- und mehr als zwei Millionen Lasterfahrer noch Halt im Gewirr der Fahrspuren und verwaisten Abfertigungshäuschen. Allesamt verpassen sie dort eine einmalige, von außen unspektakuläre Besonderheit am Straßenrand. In Sichtweite zu den vier Fahrspuren verläuft direkt hinter einem Absperrzaun eine zweite deutsch-tschechische Hochgeschwindigkeitsverbindung: die einzige bayerisch-tschechische „Strom-Autobahn“. Als einzige Schnittstelle zwischen dem süddeutschen und dem tschechischen Stromnetz verbindet die 380-Kilowatt-Höchstspannungsleitung zwischen dem ostbayerischen Umspannwerk Etzenricht (Landkreis Neustadt an der Waldnaab) und dem böhmischen Pendants in Hradec und Prestice die Stromwelten zweier Länder. Mit der Abschaltung sieben deutscher Kernkraftwerke rücken die mehr als 46 Meter hohen und 65 Tonnen schweren Masten der Höchstspannungs-Trasse jetzt wieder zunehmend in den Fokus.
Der Stromaustausch zwischen Bayern und Tschechien und seinerzeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechoslowakei hat eine lange Geschichte: Im ostbayerischen Etzenricht wurde 1991 mit dem Bau einer Gleichstromkupplung begonnen, um den Stromaustausch zwischen beiden Staaten möglich zu machen. Diese war nötig, weil das (bundes)deutsche und das tschechoslowakische Stromnetz nicht mit der gleichen Netzfrequenz betrieben wurden.
Mitte der neunziger Jahre glich Tschechien seine Netzfrequenz an und machte die Anlage überflüssig. Seit 18. Oktober 1995 fließt der Strom zwischen Bayern und Deutschland „grenzenlos“ ohne Hürden. Insgesamt können derzeit über die bayerisch-tschechische Höchstspannungs-Trasse rund 2.900 Megawatt Strom ausgetauscht werden. Das entspricht etwa der Stromerzeugung von zwei großen Kernkraftwerken wie dem bayerischen Isar 2. Die zweite deutsch-tschechische Leitung, die die Grenze im Erzgebirge überquert und ins Umspannwerk Röhrsdorf bei Chemnitz führt, hat eine Übertragungskapazität von rund 2.600 Megawatt.
Die Zahlen belegen: Eine Einbahnstraße von Deutschland nach Tschechien war die bayerisch-tschechische Stromtrasse nie. Seit dem deutschen Atom-Ausstiegsbeschluss im Frühjahr aber sind die Importe aus Tschechien in sonnen- und windarmen Spitzenzeiten deutlich angestiegen, wie die aktuellen Zahlen des Verbands der europäischen Übertragungsnetzbetreiber (ENTSO-E), des zuständigen deutschen Stromnetzbetreibers Tennet sowie der tschechischen Stromnetz-Betriebsgesellschaft CEPS belegen. So hat Deutschland beispielsweise am 23. Juli 2010 von 12 bis 13 Uhr 210 Megawatt Leistung exportiert. Ein Jahr später wurden im gleichen Zeitraum 549 Megawatt Leistung importiert, der Großteil davon über die bayerisch-tschechische „Energie-Autobahn“.
Insgesamt aber unterliegen die Import- und Exportmengen großen täglichen Schwankungen. Das liegt unter anderem an der Solar-Stromeinspeisung in Bayern: Scheint dort die Sonne, steigt die Stromproduktion und Deutschland exportiert nach Tschechien. An verbrauchsstarken Tagen mit wenig Sonne und wenig Wind kehrt sich das Verhältnis um – Deutschland wird, wie an jenem 23. Juli 2011, zum Importeur. Die Zahlen des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) belegen, dass die Bundesrepublik seit dem Frühjahr im Durchschnitt rund 50 Gigawattstunden Leistung pro Tag importiert. In den Jahren zuvor war die Bundesrepublik im Gesamtsaldo über 12 Monate stets eine Stromexportnation.
Neben Frankreich profitiert vor allem auch Tschechien von der neuen, durch die Abschaltung der Kernkraftwerke eingeleiteten Entwicklung: Die Importe aus Böhmen, wo der Strom vor allem in großen Kohlekraftwerken sowie im Kernkraftwerk Temelín erzeugt wird, haben seit dem Frühjahr um rund 40 Prozent zugenommen, belegen die BDEW. Den für den bayerischen Teil zuständigen Höchstspannungs-Netzbetreiber, die Tennet mit Sitz in Bayreuth, stellen besonders die durch volatile Einspeisung von Wind- und Sonnenstrom verursachten Schwankungen vor Herausforderungen. „Die Zahl der einzelnen Ausgleichsmaßnahmen hat sich verdoppelt, so dass mittlerweile fast jeden Tag mehrmals eingegriffen werden muss“, sagt Tennet-Pressesprecher Markus Meyer. Flexible, schnelle Reaktionen sind notwendig, um die vorher oft bis auf das Megawatt und gemeinsam mit den tschechischen Kollegen geplanten „Fahrpläne“ zu ergänzen.
Nicht Wenige in Tschechien sehen im zunehmenden Stromexport zum großen Nachbarn auch eine rentable Zukunftsperspektive. Auch nach Fukushima verfolgt Tschechiens Politik die Planungen für eine Erweiterung des Kernkraftwerks Temelín um zwei neue Blöcke weiter.

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