Basteln in der vierten Dimension

Aus: Spektrum der Wissenschaft, Juni 2012
In den vergangenen sechs Jahren hat sich die Ausstellung "Explore Science" als ein Besuchermagnet besonderer Art etabliert: Mitten im Juni haben Besucher aller Altersklassen, vom Kindergarten bis zur Volljährigkeit, fünf Tage lang Gelegenheit, Wissenschaft in handgreiflicher, spielerischer Form zu erleben. (Erwachsene sind natürlich auch zugelassen.)
Die Klaus-Tschira-Stiftung, die das Ereignis ins Leben gerufen hat und großzügig fördert, kooperiert auf der einen Seite mit Universitätsinstituten und ähnlichen Einrichtungen für das wissenschaftliche Programm – jedes Jahr zu einem anderen Thema –, auf der anderen Seite mit Schulen für Wettbewerbe und Aktionen zum Thema, die auf der Ausstellung dann ein breites Publikum finden.
Zum diesjährigen Thema Mathematik nimmt die Stiftung einen ungewohnten Partner mit ins Boot: die Zeitschrift „Spektrum der Wissenschaft“. Die ist eigentlich darauf spezialisiert, erwachsenen Lesern jeden Monat Wissenschaft in sorgfältig aufbereiteter, gedruckter Form nahezubringen; erst seit einem Jahr wendet sich ihr jüngstes Kind "Spektrum-neo" an die 12- bis 16-jährige Leserschaft. Aber für die Mathematik nimmt der zuständige Redakteur Christoph Pöppe die Finger von der Tastatur und liefert dem Publikum handgreiflichen Stoff – räumliche Geometrie, um genau zu sein. Das Publikum ist zunächst eine 10. Klasse des Heidelberger Hölderlin-Gymnasiums; auf der "Explore Science" darf dann jedermann zuschauen.
Der Anspruch ist hoch, denn das Thema ist zunächst geeignet, alle landläufigen Vorurteile gegen die Mathematik zu bestätigen. Es geht um den vierdimensionalen Raum. Erstens kann man sich ihn nicht vorstellen. Zweitens gibt es ihn nicht in der Realität – von der Relativitätstheorie, in der die Zeit so etwas Ähnliches ist wie eine vierte Raumdimension, soll hier nicht die Rede sein. Drittens ist es vollkommen unklar, ob man ihn zu irgendetwas gebrauchen kann. (Man kann; aber das zu erklären ist noch einmal etwas schwieriger.)
Und davon sollen die Schülerinnen und Schüler einen Begriff bekommen? Ja, das geht, und zwar ohne Formeln. Zur Einübung bauen sie etwas in den vertrauten drei Dimensionen, und zwar aus Karton: die 13 archimedischen Körper. Das sind von regelmäßigen Drei-, Vier-, Fünf-, … -ecken begrenzte Gebilde, die nur ein bisschen weniger regelmäßig sind als die berühmten platonischen Körper. Man stellt fest, dass diese Körper untereinander eng verwandt sind. Insbesondere kann man aus einem platonischen Körper einen archimedischen machen, indem man ihm alle Ecken – auf sehr regelmäßige Weise – abschneidet. Das ist mit einem Würfel aus jungem Gouda anschaulich und schmackhaft zu demonstrieren.
Nachdem man sich so mit den Familienverhältnissen unter den dreidimensionalen Körpern vertraut gemacht hat, geht es an deren ganz große Verwandte – die entsprechenden Körper in vier Dimensionen. Da wir alle uns das nicht vorstellen können, müssen wir Krücken für die Anschauung bereitstellen. Von einem dreidimensionalen Gebilde gibt der Schatten noch Wesentliches wieder, obgleich er gänzlich in der (zweidimensionalen) Ebene liegt. Entsprechend gibt es von vierdimensionalen Gebilden dreidimensionale Schatten – sehr gewöhnungsbedürftig, aber nach einer Weile kommt man damit zurecht.
Archimedische Körper in vier Dimensionen sind typischerweise groß und prachtvoll. Und selbst ihr dreidimensionaler Schatten ist so vielgestaltig, dass man ihn nicht in erträglicher Zeit in Karton bauen kann. Da muss ein geometrischer Baukasten namens Zometool zur Anwendung kommen.
Zurzeit steckt die Klasse den dreidimensionalen Schatten eines vierdimensionalen archimedischen Körpers aus 7200 Zometool-Plastikteilen zusammen. Das Resultat wird auf der "Explore Science" zu bewundern sein; das Bild zeigt das Ergebnis einer ähnlichen Aktion.
Der Lehrstoff zu der Unterrichtsreihe, die gerade am Hölderlin-Gymnasium abläuft, ist übrigens schon schriftlich dokumentiert, und zwar, wie es sich für einen Redakteur gehört, in einem Artikel im aktuellen Juniheft von Spektrum der Wissenschaft.

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