"Barry Lyndon" reißt mit all seiner überirdischen Pracht, seiner Grazie, seiner Zartheit, seiner beständigen Zukunftsangst den Boden unter den Füßen weg. Es ist der intimste Film des Regisseurs, weil er in einer sozial wie zwischenmenschlich entfremdeten Figur (Ryan O'Neal) etwas ebenso fremdartig Vertrautes und Melancholisches findet, tief im Herzen verborgen. Ein Individuum zerbricht wieder einmal an den moralischen Strukturen und an der Bestie Mensch, die ihn wie ein vergifteter Apfel verführt. Ästhetischer Perfektionismus, minutiöse Arrangements und eine beängstigende Akribie aus Kubricks Tyrannei zur vollkommenen Bildermalerei ebnen den von Zerwürfnissen und Sehnsüchten überschatteten Weg Barry Lyndons ins Verderben und "Barry Lyndons" zu einem Platz direkt im Louvre neben der Mona Lisa. Jedes Detail barocker Vorbilder formvollendet, da jedem Detail ein genauestens einstudierter Platz zugewiesen wird (hier entlang, bitte!), jede Perücke, jeder Degen, jedes Kostüm scheint Bestandteil eines durchkomponierten Ausstattungssystems zu sein, bis zum Stillstand. Stillstand, wenn die Kamera rückwärts zoomt von der Nahaufnahme in die Totale (außergewöhnlich: John Alcott), Stillstand für jedwedes Abwürgen der Spannung in den Gewaltszenen, überhaupt Spannungslosigkeit dort, wo Spannung herausgefordert wird – quälend langsam, das Erzählen eines auktorial-ironischen Erzählers, quälend langsam, aber auch das Genießen zur Händel-, Bach- und Schubertklassik hinter der Kamera. Dieser Erzähler formuliert Barry Lyndons spiralförmige Entwicklungsreise als ein Chamäleon, das sich verschiedenartigen Situationen anpassen muss, in dem es seine Haut den Gegebenheiten färbt. Bursche (zukunftslos). Lümmel (impertinent). Vagabund (rebellisch). Soldat (mutig). Spion (raffiniert). Falschspieler (erfahren). Hochadeliger (materialistisch). Und wieder zurück. Zum Burschen, vereinsamt, zukunftslos. Keine Geschichte, die sonderlich spannend nach Schema F aufbereitet wird, wie gesagt, aber im Gegenzug eine umso dekadentere Bildermeditation, ein politisches Zeitporträt, das rabenschwarz und komisch, fiebrig und subtil gleichermaßen unter die Haut geht. Geld und Macht in einer sich zwingend selbst erhaltenden, degenerierten Gesellschaft sind dazu verdammt, der Menschlichkeit zu widersprechen und der Ritterlichkeit eine Bleikugel in die Brust zu jagen. Trotz des nihilistischen, spöttelnden Kubricks-Blicks auf Barry Lyndon widerspricht Kubrick seinem eigenen Gestus fortwährend, sobald er immer wieder Momente des erwärmenden Optimismus zwischen denen der hemmungslosen Kälte einstreut: Barrys erster Kuss mit Lady Lyndon (Marisa Berenson), Lord Bullingdons (Leon Vitali) Zusammenbruch während der Genugtuung versprechenden Farce eines Duells oder das Aufeinandertreffen zweier Iren, von denen der eine den anderen beschatten sollte. Solcherlei Augenblicke, in denen die Fassade des künstlichen Antlitzes einstürzt, die Maske des ihn verschlungenen Gefüges zerfällt, die Zähmung des vorgesehenen Kostüms misslingt und der reine, unverstellte Blick unter Tränen geboren wird.
8,5/10