Anders kann man die Empfehlung für Platée von Jean-Philippe Rameau nicht abgeben. In unserer heutigen, mit Medienreizen überfluteten Zeit muss alles in Kürze gesagt werden – deswegen, wer nicht weiterlesen mag, halte sich an die Eingangszeile. Wen aber interessiert, was sich derzeit an der Opéra National du Rhin abspielt dem sei gesagt: Großartiges.
Das auf den ersten Blick so sperrige Werk, weil von seiner Thematik her für unser heutiges Verständnis an den Haaren herbeigezogen, mit vielen Zwischenballetten versehen und in schlankem Barockklang angelegt, wurde von Mariame Clément so inszeniert, dass von der ersten bis zur letzten Minute Freude herrscht im Saal – und noch darüber hinaus. Der Götterhimmel, in dem Jupiter mit seiner Ehefrau seine liebe Eifersuchtsnot hat, entpuppt sich als schickes, amerikanisches Appartement der 50er Jahre. Die Götter, die ihre Pläne schmieden, um Juno zu Vernunft zu bringen, sind smarte Businessmen, die ihren Gattinnen brav die Tüten vom Einkaufsmarkt nach Hause bringen. Die Torheit entsteigt direkt aus einer Werbesendung dem Fernseher, um weiter ein Konsumprodukt nach dem anderen anzupreisen.
Platée mit Emiliano Gonzalez Toro und Céline Scheen an der Opéra du Rhin in Straßburg (c) Alain Kaiser
Platée, die hässliche Froschgöttin, der bei Rameau so übel mitgespielt wird, mutiert in Straßburg nach ihrer „Verschönerung“ vom grünen, barbusigen Froschmonster in eine Mischung von Miss Piggi und HP Kerkeling und agiert als bemitleidenswertes Wesen, das sich in einer Welt wiederfindet, die sie zwar fasziniert, aber der sie intellektuell nicht gewachsen ist.
Vom Anfang bis zum Schluss gestattet sich Clément keine Inszenierungsausrutscher und bleibt konsequent in jener Zeit, in der es schien, als sei für uns Menschen alles machbar und kein Ende des Wohlstands absehbar. Das Schlafzimmer des Prologs, aus dessen Bett nacheinander nicht nur Jupiter und Juno entsteigen, sondern eine Unzahl von ähnlichen Göttinnen und Göttern, verwandelt sich in ein Wohnzimmer mit überdimensionalem Aquarium, in dem es sich Platée mit ihrer Gespielin Clarine bequem zwischen den großen Wasserpflanzen eingerichtet hat. Céline Scheen, die im Bild zuvor schon als Amor in Gestalt von Marilyn Monroe das Publikum zum Lachen brachte, ist neben der froschäugigen Platée in dieser Inszenierung die Einzige, die ein zauberhaftes Feenkostüm trägt. Ihre helle und klare Stimme schmiegt sich perfekt an ihre Rollen an. Die Nymphen hingegen erscheinen in eng anliegenden Schwimmsuits mit blumenbestückten Plastikbadekappen und tanzen in ihrem Ballett, das man Lust bekommt, „mitzuschwimmen“. Das Spiel der Götter, allen voran Jupiter, gesungen von Francois Lis mit einem vollen, klaren, den Raum füllenden Bass, Thespis und Merkur (in dieser Doppelrolle ist Cyril Auvity zu hören und sehen) sowie Momus und Cithéron (Evgueniy Alexiev) stattet den Göttervater mit allen Klischees aus, die es braucht, um einen erfolgreichen Geschäftsmann in Amerika darzustellen.
Emiliano Gonzalez Toro als Platée an der Opéra national du Rhin in Straßburg (c) Alain Kaiser
Autos – wie der rote Pappcadillac, dessen Motor Platée vor lauter Ungeschick zum Explodieren bringt, gehören genauso zur Aufrechterhaltung seines Status wie ein Liebesabenteuer mit einer Rollschuh fahrenden Kellnerin in einem Fast-food-Restaurant hinter einer roten Skylederbank. Dass sich alle Ideen entlang eines roten Fadens ineinnanderfügen und zueinanderpassen, alles stimmig bleibt bis zum Schluss, ist aber nicht alleine der Inszenierung von Clément geschuldet. Zu einem großen Teil ist es auch die Choreografie der Ballette, die Joshua Monten so gestaltete, als wären sie keine abgehobenen, artifiziellen Zwischenstücke, sondern Teil des Ganzen, der zum Unterhaltungswert maßgeblich beiträgt. Das Ballet der Cowboys und Indianer zum Beispiel, in welchem mit den Tomahaks gefuchtelt und mit Revolvern gezielt wird, das einem Angst und Bang werden könnte und Lachsalven im Publikum hervorruft, oder das Ballett der drei Grazien, die als Schneiderinnen die rundliche Platée mit Brautschleier und weißen Maschen an ihrem langen Schwanz ausstatten, beinhalten barocke Schrittfolgen, die gerade im Wirtschaftswunder-Umfeld für zusätzliche Erheiterung sorgen.
Doch wer genau liest, was lesbar ist, kann auch einen durchaus konsumkritischen Ansatz in dieser Platée-Inszenierung finden. Denn obwohl die hässliche Platée zum Schluss von niemandem mehr Ernst genommen wird, mahnt sie doch – und das wohl nicht unbeabsichtigt – ihrer Stimme Gehör zu schenken. Vergeblich wird versucht, sie in ihrem eigenen Aquarium zu ertränken und niemand sieht die Naturgewalt, von der ihr unter dem rosaroten Sonntagskostümchen noch immer der grün gesprenkelte Schwanz hervor lugt . Er könnte uns doch alle daran erinnern, dass die Zeiten, die Natur zu verspotten, längst vorüber ist. Aber, so hat es den Anschein, tun wir dies nach wie vor mit wachsender Begeisterung.
Platée mit Emiliano Gonzalez Toro und Francois Lis (c) Alain Kaiser
Nachdem die geplante Hochzeit zwischen Jupiter und Platée geplatzt war, zu der übrigens alle Großen und Schönen der damaligen Zeit eingeladen waren (Einstein, Elvis Presley, de Gaulle, Mutter Theresa sowie die Freiheitsstatue herself gaben sich die Ehre) verschwinden Jupiter und Juno wieder in ihrem großen Ehebett. Doch Platée bleibt sichtbar davor in einer Kauerstellung, die ankündigt, dass sie zwar in der Oper, aber darüber hinaus noch nicht ihr letztes Wort gesprochen hat.
Die musikalische Leitung obliegt Christophe Rousset, der, so nah es geht, mit dem Orchester am Originalklang arbeitet und eine durchsichtige und feinhörige musikalische Interpretation abliefert. Emiliano Gonzalez Toro als Platée ist nicht nur stimmlich, sondern vor allem auch schauspielerisch herausragend. Sein warmer, klarer und zugleich voller Tenor verzückt in jedem noch so schwierigen Moment. Seine tollpatschigen Bewegungen berühren tief und sein verstörter, aber zugleich auch Unheil kündender Blick am Schluss der Aufführung, verweisen, wie schon angedeutet, in die Zukunft. Der frenetische Applaus und die Bravo-Rufe bestätigen, dass hier jemand auf der Bühne steht, der mit allen Wasser gewaschen ist. Seien ihm noch viele, viele Abende wie diese vergönnt – zur Freude des Publikums, wo immer dies auf der Welt in Zukunft auch sein mag.
Bleibt nur noch die koketten Kostüme und das wandlungsreiche und überraschungsvolle Bühnenbild von Julia Hanson zu erwähnen, die mit der Regie ein stimmiges Ganzes ergeben, das es Wert ist, auch mehrmals angeschaut zu werden. All jenen, die um jeden Preis die barocke Tradition hoch halten wollen und sich über die aktuelle Adaptierung mokieren, sei ins Stammbuch geschrieben, dass Platée auch bei Jean-Philippe Rameau zur Erheiterung und Belustigung des hochherrschaftlichen Publikums dienen sollte. Und was für den Hof in Versailles im 18. Jahrhundert recht war, sollte für uns heute wohl nur billig sein!
Wer Lust dazu hat, kann neben den Aufführungen in Straßburg und Mulhouse sich auch die Aufzeichnung von Arte im Internet ansehen, die 6 Monate lang online gestellt bleibt.
Hier ein kleiner Vorgeschmack:
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