Barmherzigkeit und Menschenwürde in Selbstbestimmung

Von Nicsbloghaus @_nbh

WEIMAR. (fgw) Der jetzt vor­lie­gende vierte (Sammel-)Band der Schriftenreihe der Humanistischen Akademie Berlin “Barmherzigkeit und Menschenwürde” ver­eint Texte aus zwei Tagungen der Humanistischen Akademie Deutschland und einem Kolloquium der Humanistischen Akademie Berlin, die in den Jahren 2009 und 2010 statt­fan­den.

Herausgeber Horst Groschopp schreibt zum Anliegen der o.g. Veranstaltungen und die­ses Sammelbandes: “So sehr das latei­ni­sche Wort huma­ni­tas – neben ‘Bildung’ – die Bedeutungen ‘Barmherzigkeit’ und ‘Menschenwürde’ ein­schließt, so zie­len beide Ausdrücke doch zuneh­mend auf zwei­er­lei ‘Anwendungen’ von ‘Humanität’: die hel­fende Hinwendung zum ein­zel­nen Menschen und die Achtung der Menschlichkeit gegen­über jedem Einzelnen. Dieser Doppelsinn ist in die moderne Auffassung von Humanismus ein­ge­gan­gen. Während bis vor weni­gen Jahren eine als kon­ser­va­tiv zu beur­tei­lende Konzeption von Humanismus – ver­ein­facht aus­ge­drückt – auf höhere Bildung in den Maßstäben der Antike setzte und das Vorurteil nährte, ‘Barmherzigkeit’ sei eine christ­li­che Sache, gibt der vor­lie­gende Band andere Einblicke (…) hin­sicht­lich der Herleitung von ‘Barmherzigkeit’ aus der römi­schen Sprachwelt selbst.”

Diese Einblicke gibt gleich ein­gangs Hubert Cancik mit sei­nem über­aus lehr­rei­chen Aufsatz “Gleichheit und Menschenliebe”. Und er ver­weist anhand zahl­rei­cher Belege aus der Antike, daß die heh­ren Begriffe der “christ­li­chen Kirchen” nicht ori­gi­när christ­li­chen oder gar “gött­li­chen” Ursprungs sind, son­dern in der heid­ni­schen Antike Lebensalltag waren. Dazu zitiert er Cicero: Die Natur schreibt auch das vor, daß der Mensch dem Menschen, wer immer er sei, hel­fen wolle, genau aus die­sem Grunde, weil er ein Mensch ist.” Ergänzt wird Cancik durch Frieder Otto Wolf; die­ser schreibt über “Menschenwürde und Endlichkeit des Lebens”.

Vorrangig geht es in die­sem Band jedoch nicht um phi­lo­so­phi­sche Betrachtungen und Begriffsklärungen, son­dern um wich­tige Praxisfelder des orga­ni­sier­ten Humanismus in Deutschland. Daher nimmt der Beitrag von Gita Neumann “Lebens- und Sterbehilfe – Bedürfnis nach geis­ti­ger Orientierung” nicht nur den zen­tra­len Platz ein; er ist auch der längste. Gita Neumann schreibt aus­führ­lich nicht nur über ihre eige­nen Erfahrungen in der Sterbebegleitung. Sie hat auch eine eigene Konzeption ent­wi­ckelt. Zur der­zei­ti­gen Sterbekultur wirft sie mutig offene Fragen auf, wie die nach einem ärzt­lich beglei­te­ten Suizid. Ferner geht sie auf den unent­wi­ckel­ten Stand einer huma­nis­ti­schen Verarbeitung die­ser Probleme ein und setzt sich kri­tisch mit gegen­wär­ti­gen hos­piz­li­chen Praxis, gerade der kirch­li­chen, aus­ein­an­der. So schreibt sie u.a.: “Was die ‘Sterbekultur’ betrifft, ste­hen sich heute wei­ter­hin unver­söhn­lich zwei Positionen gegen­über: Eine durch Sterbetreuung und Lebensschutz geprägte Hospizversorgung und eine für Sterbe- und Suizidhilfe ein­tre­tende ‘right to die’-Bewegung (Recht auf Sterben).” Welcher Position die Autorin zuneigt, wird an die­sem Satz deut­lich: “Wenn jemand die Lebensperspektive bei dia­gnos­ti­zier­ter Demenz für sich ablehnt, ist es durch­aus gerecht­fer­tigt, vor­sorg­lich Schritte zum früh­zei­ti­gen Tod zu unter­neh­men – sei es durch Suizid oder einen abso­lu­ten Behandlungs- und Ernährungsverzicht.”

Hervorzuheben sind auch Gita Neumanns Reflexionen über eine “Humanistische Psychologie.

Für mich von beson­de­rer Bedeutung sind ihre über­aus kri­ti­schen Anmerkungen zum Humanistischen Verband Deutschlands (HVD) und zu des­sen Humanistischem Selbstverständnis, so u.a. diese: “Der Humanistische Verband hat eine selbst­be­wußte Idee von sich als Ganzes zu ent­wi­ckeln, um sich nicht allzu vor­sich­tig an Einzelheiten (sind wir dafür oder dage­gen?) abar­bei­ten zu müs­sen. Es gilt, Selbstvertrauen und Mut zu stär­ken, auch in Bezug auf Fragen, die durch­aus im Modus von Rationalität zu behan­deln sind.”

Der Rezensent möchte Neumanns Kritiken ergän­zen und auf den Punkt brin­gen: “Will der HVD bun­des­weite Weltanschauungsgemeinschaft mit viel­fäl­ti­gen Angeboten sein, oder bloß eine regio­nal tätige welt­li­che ‘Caritas’ blei­ben?”

Weitere Themen und Autoren die­ses Sammelbandes sind:

“Zwischen „senior con­su­mer” und Altersarmut – Altersrollen und Altersbilder in Deutschland” (Guido Klumpp); “Abenteuer Alter. Seniorenethik – Seniorenspiritualität. Eine phi­lo­so­phi­sche Betrachtung am Leitfaden der Idee der Lebenskunst” (Joachim Kahl); “Was kann unter Spiritualität in einem nicht­re­li­giö­sen Bezug ver­stan­den wer­den?” (Erhard Weiher); “Rituale am Sterbebett” (Andrea Richau); “Weltlicher Humanismus und Spiritualität” (Ulrich Tünsmeyer); “Imaginalität – das ver­drängte Erbe. Warum der Humanismus einen neuen Begriff braucht” (Andreas E. Kilian) sowie “Humanismus und Humanität bei Albert Schweitzer” (Ernst Luther).

Dieser Band sollte nicht nur unter Fachleuten im Bereich der Sterbe- und Trauerkultur kur­sie­ren, son­dern Handbuch für mög­lichst viele säku­lare Sozialarbeiter und Verbandsfunktionäre, nicht nur des HVD, wer­den. Dem aller­dings steht aber durch­aus der Preis die­ser Publikation ent­ge­gen. Ja, auch das muß (lei­der) ange­merkt wer­den: Die Preise der huma­nis­ti­schen Schriftenreihen sind der­art gestie­gen, daß sie einem Kaufwunsch durch­aus ent­ge­gen­ste­hen.

Horst Groschopp (Hrsg.): Barmherzigkeit und Menschenwürde. Selbstbestimmung, Sterbekultur, Spiritualität. Schriftenreihe der Humanistischen Akademie Berlin, Bd. 4. 205 Seiten.11 Abb., kart. Alibri-Verlag Aschaffenburg 2011. 20,- Euro. ISBN 978-3-86569-079-1

[Erstveröffentlichung: Freigeist Weimar]