An dieser Stelle bist du jemand, der an Hunger und Durst leidet, der nun zu Nahrung und Getränke kommt und sich unersättlich an ihnen labt, bis er voll ist. Genauso können Leute mit überragenden, mittleren und geringen Fähigkeiten mit einem Kalb verglichen werden. Zuerst lebt es von Milch. Wenn es dann etwas größer geworden ist, dann lebt es sowohl von Gras und Milch. Und schließlich gibt es die Milch auf und lebt vom Gras allein. In gleicher Weise geschieht der Fortschritt, indem du zuerst anhältst und die zwanghafte Ideenbildung deiner Vitalenergien und deines Geistes bändigst und entspannst und Gedanken manifestieren lässt. Die Phase des abwechselnden Konzentrierens und Entspannens ist wie der Abschnitt, wenn das Kalb von Milch lebt. Wenn es in dieser Phase bleiben würde und nicht zum Gras kommt, dann würde gewiss an Auszehrung sterben. Wenn du ebenso nicht auf den augenscheinlichen Pfad triffst, dann wirst du die niederen Daseinszustände nicht transzendieren und du wirst beständig umherwandern.
Sobald du Samsara und Nirvana als große Leerheit sicher erkannt hast, das Dharmakaya-Gewahrsein identifiziert hast, bis du den Zustand des allwissenden, vollkommenen Erwachens erlangt hast, löse dich von allen Arten der Aktivitäten. In der Art eines natürlich ruhigen Verhaltens, frei von Aktivität, zu praktizieren, ist wie ein Kalb, das vom Gras alleine lebt, ohne Abhängigkeit von Milch. Wenn du an diesem Punkt verbleibst, wo du bloß Gewahrsein identifiziert hast, dann wirst du wie einer sein, der nicht isst oder seinen Hunger und Durst stillt, selbst wenn er Nahrung hat. Solch eine Person wird gewiss sterben. Wenn deine Praxis genauso den Tod nicht mit einschließt, dann wirst du dich mit Hoffnungen und Befürchtungen über alle guten und schlechten Dinge der Gegenwart beschäftigen. Wenn das geschieht, dann wirst du durch den endlosen Daseinskreislauf der dualistischen Erscheinungen von dir und anderen und durch Gedanken am Festhalten von Hoffnungen und Befürchtungen hinsichtlich gut und schlecht verblendet sein. Daher erkenne das! Daher musst du die äußerste Wichtigkeit des Praktizierens mit Eifer und großem Mut bewusst sein, bis sich der Zustand der Befreiung und Allwissenheit manifestiert hat. Sowohl Leben als auch meditative Beständigkeit werden Bardo genannt, da beide Zwischenzustände des Bewusstseins als ihre Basis haben.
Aus dem Vajra-Herz-Tantra des natürlichen Verweilens (gnas lugs rang byung gi rgyud rdo rje’i snying po) von Dudjom Lingpa; übersetzt vom Ngak’chang Rangdrol Dorje (Enrico Kosmus, 2014)
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