1984 hatte Barbara Sichtermann in der Buchhandlung Land in Sicht einen ihrer Klassiker vorgestellt: Weiblichkeit. Am 14. Juni 2012 las sie aus ihrem neuen Buch, mit dem sie eine unserer unaufgeräumten Ecken in den Fokus nimmt: Unsere Sexualität, über die zu sprechen weiterhin tabubelastet und mühsam ist. Gerade, weil die aufgeklärte westliche Welt so auffällig sexualisiert ist: Auf Kosten der Frauen, die dem “emotionalen Kapitalismus” der Männer nach Eva Illouz nur wenig entgegensetzen können. Noch jedenfalls.
Sichtermann hat ihr Material so organisiert wie Giovanni Boccaccio seines im Decamerone: Ihr Rahmen ist eine wissenschaftlichen Untersuchung, was den heutigen deutschen Frauen Sex bedeute. Die Geschichten liefern die per Zeitungsannonce ausgewählten Frauen, die darüber reden wollen. Sie berichten von leidenschaftlichen Lieben und von Vergewaltigungen, von passenden, aber langweiligen, von unpassenden, aber hocherotischen Verbindungen, wie überkommene Wertvorstellungen nutzlos werden, wie sie mit Sex zu besseren Menschen werden, oder auch vollkommen unglücklich, und sie bleiben mit ihren Berichten trotz aller Offenheit nicht immer bei der Wahrheit – der Tribut an überlebte Moralvorstellungen.
Formal irritiert die im Vorwort behauptete Authentizität der Gespräche, als ob es darauf ankäme, als ob wir nicht wüssten, dass in allem Geschriebenen Dichtung und Wahrheit interagieren, als ob die Umkreisung der weiblichen Sexualität nur unter der Prämisse der wissenschaftlichen Authentizität statthaft sei. Irritiertierend auch der Eindruck, dass Sichtermanns Geschichten überwiegend in ihrem eigenen sozialen Umfeld stammen. Aber vielleicht ist es auch noch zu früh für die Geschichten der “anderen” Frauen, beispielsweise der eingewanderten?
Egal: Chapeau für Barbara Sichtermann, die mal wieder in Vorlage getreten ist, wie immer präzise auf den Punkt und unterhaltsam dabei: Let`s talk about sex! So vielstimmig und so laut wie möglich. Dann finden wir auch eine Antwort auf die Frage, wie Beziehungen heute aussehen könnten, in denen alle glücklich sein könnten.