Baden-Württemberg und darüber hinaus

Von Oeffingerfreidenker
Von Stefan Sasse
Vor einem halben Jahr hätte wohl noch niemand gedacht, dass die Landtagswahlen BaWü so wichtig werden sollten. Ein schwarz-gelber Sieg war eigentlich programmiert weil, nun ja, weil die Schwarz-Gelben hier schon immer gewinnen. Jetzt aber ist die stärkste CDU-Bastion gefallen. S21 und Fukushima werden von den Wahlverlieren - und das sind alle außer den Grünen - gerade ständig zur Erklärung ihrer Ergebnisse herangezogen. Sie haben sicher eine mobilisierende Rolle gespielt. Es ist jedoch eine Konstante von Wahlkampfstrategie, dass nur mobilisiert werden kann, was vorher schon da war. Ohne einen Verdruss mit der Politik von SPD, CDU und FDP wäre der Wahlsieg der Grünen so nicht möglich gewesen, ohne den grünen Glaubwürdigkeitsbonus auch nicht, ob er nun berechtigt ist oder nicht (wir werden uns dieser Frage gleich widmen). Die Verhältnisse der Bundespolitik sind auf BaWü abgestrahlt, und BaWü strahlt auf die Bundespolitik zurück. Wir wollen uns im Folgenden ansehen, warum das so ist. 
Die CDU ist von den Verlierern das Elektorat betreffend noch am besten davongekommen. In Rheinland-Pfalz konnte sie leicht zulegen, in Baden-Württemberg hat sie "nur" 6 Prozent verloren. Ersteres allerdings ist bei den dramatischen Verlusten Becks und in einem traditionell konservativ geprägten Land eigentlich auch nur eingeschränkt als Erfolg zu werten. Die Verluste in BaWü hätten angesichts der verheerenden Auswirkungen von S21 und Fukushima noch viel dramatischer ausfallen können; hierzulande kann die CDU aber weiterhin auf eine stabile, unreflektierende Stammwählerschaft zählen. Die CDU baut bei Wahlen stark auf ihr Image. Sie sei eine wertkonservative Partei, erfahren, seriös und pragmatisch, eben "bürgerlich". CDU-Wahlwerbung betont Verlässlichkeit und pragmatische Regierungsarbeit, Routine und Kompetenz. Das funktioniert, weil die CDU auf einigen Gebieten seit Jahrzehnten große Glaubwürdigkeit besitzt. Jeder "weiß", dass die CDU regieren kann. In diesem Bild kommen bei CDU-Wahlsiegen einige biedere Menschen in Anzügen und erledigen geräuschlos die notwendige Regierungsarbeit, ohne den Bürger zu sehr zu belästigen. Es ist dieses Image, das die CDU so lange und konstant regieren lässt. Es ist aus einigen Kernkompetenzbereichen zusammengesetzt, die im Allgemeinen beschworen und mit der CDU assoziiert werden. 
In der Wirtschaftspolitik gilt die CDU als mittelständisch orientiert, und der Mittelstand ist bekanntlich die deutsche Version des amerikanischen Traums: jeder will Mittelschicht sein. Das inhärente Versprechen der CDU ist immer, dass wer fleißig schafft, sein Häusle bauen kann. Im Gegensatz zur FDP bleiben die Brosamen dabei sogar für die Verlierer übrig, also die Arbeitslosen. Denen macht der Konservative zwar Druck, aber er bedroht sie nicht. Bislang gehörte außerdem das Bekenntnis zur Atomkraft zum wirtschaftspolitischen Portfolio der Partei. Damit verbunden war das Versprechen billigen Stroms (angesichts der Stromprivatisierung eigentlich ein Hohn), was für Bürger immer wichtig ist, weil es sich um eine handfeste und leicht messbare Sache handelt. In der Bildungspolitik steht man hauptsächlich für ein "Weiter-so" mit leichtem Ausbau bestimmter Bereiche, vor allem der frühkindlichen Bildung und der Exzellensuniversitäten. Beides dient aber eher dem Betrieb der mittelständischen Aufstiegsmetapher als realen politischen Zielen. In der Innenpolitik steht die CDU für Law and Order, womit beim Durchschnittsbürger immer Punkte gemacht werden. Bestrafen statt Resozialisieren, Wasserwerfer statt Deeskalationsteams - selbst nach S21 kann die CDU damit punkten, solange der Gegner den Bürgerlichen nur genug erschreckt. In der Außenpolitik hat die CDU unter Merkel ihre jahrzehntelange Westbindung und Europaorientierung über Bord geworfen, ohne etwas Neues hinzuzufügen. Zu ihrem Glück aber entscheidet Außenpolitik selten Wahlen.
Teile dieses Imagekerns sind inzwischen in Gefahr geraten. Besonders gilt dies für die Bestandteile, die als "wertkonservativ" summiert werden. Zum Glück für die CDU gibt es keine ernstzunehmende Alternative am rechten Rand, die man wählen kann. Auf eine Partei vom Zuschnitt der amerikanischen Republikaner, die einen fast reaktionären Konservatismus mit einer aggressiv-neoliberalen Wirtschaftspolitik verknüpfen, wartet man hier glücklicherweise noch vergebens. Die Verluste der CDU halten sich einerseits aufgrund dieser fehlenden Konkurrenz, andererseits aber wegen der Stammwählerschaft in Grenzen. Menschen über 60 tendieren überwältigend dazu, der CDU immer ihre Stimme zu geben, komme was wolle. Gepaart mit einem sehr CDU-freundlichen Wahlrecht nicht nur in BaWü, sondern auch in anderen Bundesländern oder gar im Bund (Stichwort: Erststimme) ist damit die Dominanz der CDU als stärkster Partei auch weiterhin gesichert.
Wesentlich dramatischer ist die Situation für die FDP. Ihre Anlage ist ähnlich der der CDU: sie ist traditionell eher konservativ eingestellt, wenngleich mit einem liberalen Einschlag, der sie aufgeschlossen gegenüber rechtlichen Gleichstellungen macht, aber ihre Verwurzelung findet sich exklusiv im gehobenen Bürgertum. Die FDP ist wie eine Egoismusversion der CDU, etwas weltoffener, dem Geldbeutel der Wählerschaft angepasst, und die Markenkerne einfach etwas prononcierter auf Kosten dessen, was die CDU zur Volkspartei macht: Facharbeiter, Arbeitslose, Familien, Alleinerziehende, Ausländer - all das spielt für die FDP keine Rolle. Für sie sind Geschlecht und Herkunft egal, sie macht Politik für diejenigen, die es geschafft haben (und im Gegensatz zu ihrer Selbstdarstellung nicht für die, die es schaffen wollen), sei es Frau, Inder oder Schwarzafrikaner. Sind Manieren und Geldbeutel entsprechend, spielt all das keine Rolle mehr (im Gegensatz zur CDU, wo der "Wertkonservatismus" derartiges verhindert). Bislang besaß die FDP einen Markenkern für dieses gehobene Bürgertum und erschien als der Verteidiger seines Wohlstands, ein Bollwerk gegen Steuern. 
Diese Glaubwürdigkeit aber hat die FDP verloren. Ihre versprochene große Steuerreform ist dahin, und auch sonst hat ihr Zickzackkurs der Absurditäten seit Herbst 2009 sie viel Ansehen unter ihren früheren Wählern gekostet. Ihr Wahlsieg 2009 und kometenhafter Aufstieg in den Jahren zuvor beruhte auf der geschickt unterstützten Unterstellung, es habe eine "Sozialdemokratisierung" der Union stattgefunden, und einzig die FDP sei die Bewahrerin bürgerlicher Besitzstände. Ihre Politik aber zeigt, dass die FDP nicht einmal ihre eigenen wahren kann - die dramatischen Verluste bekräftigen sich selbst, denn das gehobene Bürgertum mag keine Verlierer. Eine Partei aber, die sich offen für den Meistbietenden prostituiert und jederzeit bereit ist, alles über Bord zu werfen und die trotz allem nicht in der Lage ist sich zu behaupten braucht niemand. Die FDP bietet weder ein politisches Programm, noch ein Gefühl oder Selbstverständnis, noch ist sie ein glaubhafter Besitzstandswahrer. Sie ist, mit einem Wort, überflüssig.
Überflüssig ist derzeit auch die SPD. Deren Verluste seit 2003 sind mit denen der FDP absolut vergleichbar; allein, sie sind nicht lebensbedrohlich, da die SPD einen viel höheren Sockel hatte, der länger braucht um komplett abzuschmelzen als der der FDP. Wenn es um Glaubwürdigkeit beim Wähler geht, steht die SPD mindestens genauso schlecht da wie die FDP. Welche Politikbereiche vertritt sie denn noch, was sind derzeit die Markenkerne der SPD? Man braucht nicht lange suchen, es gibt keine. In der Familienpolitik gibt mittlerweile Ursula von der Leyen den Ton an, und Manuela Schwesig bleibt nichts als trotzig zu erklären, dass die SPD das Gleiche viel besser machen würde. In der Arbeitspolitik hat die SPD es geschafft, der Erfinder von Hartz-IV zu sein, danach Fehler einzugestehen und die Beseitigung dieser Fehler der schwarz-gelben Koalition zu überlassen. In der Bildungspolitik mäandert die Sozialdemokratie irgendwo zwischen den Konzepten der Grünen herum, ohne dass man darin einen Markenkern ausmachen könnte. In Wirtschaftspolitik und Finanzen findet sie gar nicht statt, sofern sich nicht der CDU-Ehrenvorsitzende Peer Steinbrück zu Wort meldet. 
Die SPD erntet derzeit die Früchte eines strategischen Irrwegs. Nach dem Ende des rot-grünen "Projekts" 2005 glaubte sie, sich als Regierungsalternative profilieren zu müssen, die der CDU in nichts nachsteht. Man hatte vor, in der Großen Koalition zu beweisen, dass man sich auf das Regieren besser verstände als die CDU, und so Schwung für 2009 zu gewinnen. Was 2005 Hybris war, war 2009 nur noch albern. Die SPD wurde in der Großen Koalition im Verbund von Merkel, Steinmeier und Müntefering so an den Rand gedrängt, dass sie zwar die Verantwortung für alle unpopulären Entscheidungen trug - Stichwort Rente mit 67 - aber nichts von den Meriten abbekam. Letztlich gerierte sich die SPD als eine bessere CDU. Pragmatisch, verlässlich, seriös wollte man sein und so gewissermaßen im Wählergarten der CDU wildern und das eigene rote Pflänzlein pflanzen. Diese Idee war und ist dumm. Warum sollte jemand die Kopie wählen, wenn er das Original haben kann? Das war auch in BaWü zu sehen, wo die SPD ihr schlechtestes Ergebnis aller Zeiten einfuhr. Wer für S21 war, wählte CDU, und wer dagegen war die Grünen. Wo ist da Platz für eine "Dafür, aber mit Volksentscheid!"-Partei? Nicht alles anders, aber vieles besser - der Spruch war schon bei Schröder hohl. Bei Nils Schmid gerinnt er zur völligen Bedeutungslosigkeit. Was möchte die SPD in BaWü denn besser machen, oder im Bund? Fragen, auf die es keine Antwort gibt.
Die SPD wird aus ihrem Tal der Tränen nicht heraus kommen, das haben die letzten anderthalb Jahre deutlich gezeigt. Die Regierungsparteien CDU und FDP waren und sind in einer Krise, die ihresgleichen sucht, doch die SPD profitiert nicht nur nicht davon, sie stürzt sogar weiter ab - zugunsten ehemals kleiner Parteien, die sie bei Fortführung dieses Trends zu überholen drohen. Das liegt schlicht daran, dass die Option, die Politik der CDU ein bisschen verbessern zu wollen, keine ist. Niemand will ein bisschen herumverbessern. Das Gerede von der Mitte, Sprüche der Qualität von "es gibt keine rechte oder linke Wirtschaftspolitik, sondern nur eine richtige oder falsche" - all das führt nirgendwohin, wenn niemand der Überzeugung ist, dass die SPD Rezepte für die Zukunft habe. Und das kann, bei aller Liebe, derzeit niemand glauben. Die SPD eiert vor sich hin, will hier eine kleine Verbesserung, dort eine Gesetzesveränderung, aber hauptsächlich regieren, egal um welchen Preis, denn Opposition ist ja Mist. Solange die Partei nicht ein neues Selbstverständnis entwirft und endlich so etwas wie eine Vision davon entwickelt, wie die deutsche Gesellschaft künftig aussehen soll, wird sie weiter der Wurmfortsatz von CDU und Grünen bleiben, der sie mittlerweile ist.
Die Grünen dagegen sind gerade voll auf der Sonnenseite des Lebens. Sie ernten die Früchte ihrer jahrzehntelangen Programmatik. Früher waren sie mit ihren Forderungen nach dem Atom-Aus und Umweltschutz, mit ihren Bürgerrechtsfragen und ihrer Migrationspolitik oft Außenseiter und Bürgerschreck. Jetzt ist "Genosse Trend" auf ihrer Seite und spült sie in einer Geschwindigkeit nach oben, die schwindeln macht. Viel dafür getan haben sie nicht, sieht man einmal davon ab, dass sie sich bisher keine Schnitzer erlaubt haben, die ähnlich den anderen Parteien zu einem rapiden Vertrauensverlust bei den Wählern führen. Die nämlich verzeihen den Grünen beinahe alles, so viel, dass Jutta Dithfurt von einer Lust zum Selbstbetrug sprechen kann. Vom ehemaligen Pazifismus beispielsweise ist bei den Grünen nichts mehr übrig - aber ihre Wähler stört das nicht, wogegen der Verlust der sozialpolitischen Kompetenz die SPD teuer gekostet hat.
Die Grünen sind tatsächlich beim Wähler derzeit "glaubwürdig". In der Atomfrage ist diese Glaubwürdigkeit verdient, steht die Partei doch seit den 1980er gegen die Atomkraft. In der Frage von S21 bestand wenig Alternative zu den Grünen, waren sie doch die einzige Partei, die sich dagegen aussprach (die LINKE zählt hier wenig, denn sie ist wie unten zu zeigen sein wird immer dagegen, egal bei was). Es ist absehbar, dass dieser Zustand nicht ewig anhalten wird. Irgendwann kommen die Parteien, von denen die Grünen derzeit Wähler abziehen aus ihrem Loch heraus, und dann verlieren die Grünen wieder. Die Frage ist eigentlich nur, wann das passiert und welches Ausmaß es dann annimmt. So oder so wird für das Bild zumindest der Südwestgrünen die nächste Legislatur in der Regierungsverantwortung entscheidend sein. Obgleich es unwahrscheinlich scheint, könnten sie ihre Werte zumindest in Bawü ansatzweise halten und die SPD als wichtigste Oppositionspartei beerben.
Die LINKE dagegen erlebte die Wahlen als Desaster. Nachdem sie die Grünen im Bundestag 2009 noch als viertstärkste Kraft überflügelte, waren die bisherigen Wahlen erfolglos. Zwar gelang der knappe Einzug in NRW und das Verbleiben in der Hamburger Bürgschaft, in Rheinland-Pfalz und BaWü scheiterte der Einzug jedoch allerdeutlichst, während in Sachsen-Anhalt Prozente verloren gingen. Das nur mit einer Medienblockade zu erklären führt zu nichts. Sicherlich sind die Medien bisher oftmals gegenüber der LINKEn stark voreingenommen, aber besonders seit Lafontaines Abgang hält sich mit der Ausnahme von der Affäre um Klaus Ernst die Berichterstattung sowohl im Positiven als auch im Negativen in Grenzen. Es gibt aber auch nichts zu berichten. Gibt es große programmatische Sprünge? Ideen und Leitlinien von der LINKEn? Ideen für eine bessere Zukunft? Nein. Stattdessen fordert sie eine Hartz-IV-Erhöhung nach der anderen.
Im Osten ist die Partei seit der Wende eine Regionalpartei, die die Rolle einnimmt, die hierzulande oftmals die SPD innehatte. Sie ist eine pragmatische, seriöse Regierungspartei, oftmals schon fast zu pragmatisch, auf dieselbe Falle hereinfallend, in die auch die SPD permanent rennt, indem sie der CDU ihr Klientel abspenstig zu machen versucht. Im Westen aber ist die LINKE ein Haufen von Chaoten und Dauerverweigerern. Man kann gar nicht oft genug betonen, wie abstoßend die Wahlwerbung in BaWü war. Dagegen, Abwählen, Verbieten - von eigenen Rezepten auch auf den Plakaten keine Spur. Einfach nur schriller Protest mag in manchen Situationen den Einzug in den Landtag bilden - es ist aber keine Grundlage für Politik. Das Projekt der LINKEn steht auf der Kippe und kurz vor dem Scheitern, und wenn die Partei es nicht schafft, endlich so etwas wie eine programmatische Ausrichtung hinzubekommen und eine Linie im Verhältnis zu SPD und Grünen zu finden, ohne die sie nun einmal nie regieren wird, wird sie wieder auf eine ostdeutsche Regionalpartei herabsinken und im Bund Mehrheiten jenseits der CDU verhindern, anstatt sie zu ermöglichen.
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So oder so steht zu befürchten, dass auch 2013 kein Jahr wird, in dem eine alternative Politik implementiert werden könnte. Es bleibt wohl nur, darauf zu bauen, dass weiter der Druck der Realität dafür sorgt, dass die Entwicklung nicht völlig fehlgeleitet ist. Denn so sehr es Konservative mögen darauf hinzuweisen, dass es keinen finanziellen Spielraum für linke Experimente gibt - für radialliberalen Unsinn im Steuersystem gibt es den genausowenig. So sehr es schmerzt, aber die Zukunft einer progressiven Politik für Deutschland scheint in der Zukunft eher bei der SPD und den Grünen zu liegen als in der LINKEn. Meine Hoffnungen jedenfalls haben sie bitter enttäuscht, und ich verwende meine Energie lieber darauf, die SPD wieder in eine Richtung zu bringen, in der man guten Gewissens Sozialdemokrat sein kann.
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