Die Essenz des Geistes aller Buddhas und Bodhisattvas ist der Bodhicitta, die erleuchtete Geisteshaltung. Wenn dieses Bodhicitta eine Gestalt annimmt, dann erscheint es als Chenrezig (tib., spyan ras gzigs; skt., Avalokiteshvara).
Wann immer wir Chenrezig praktizieren, dann ist der wichtigste Aspekt die Praxis des Erzeugens und Entwickelns von Bodhicitta, welches das Mitgefühls ist, das Chenrezig für alle fühlenden Wesen erfährt. Wenn wir also dasselbe Mitgefühl, diesen selben Erleuchtungsgeist hervorbringen, dann wird es für uns einfach sein, Chenrezig zu verwirklichen, weil die Essenz von Chenrezig eben Bodhicitta ist. Daher werden Segen und Ergebnis sehr rasch sein.
Viele Namen – eine Essenz
Chenrezig hat viele verschiedene Emanationen und viele unterschiedliche Namen, aber im wesentlichen sind sie alle von einer Essenz, was Bodhicitta, die Natur des Geistes aller Buddhas ist. Er erscheint in einer friedvollen Manifestation, in einer vermehrenden Manifestation und in einer zornvollen Manifestation. Er erscheint in verschiedenen Farben – manchmal weiß, manchmal rot. Manchmal erscheint er mit tausend Augen und tausend Armen, manchmal erscheint er mit einem Gesicht und vier Armen, manchmal mit einem Gesicht und zwei Armen und öfters hält er verschiedene Gegenstände in den Händen. Er wird manchmal als „Thugje Chenpo“ bezeichnet, was so viel wie „Großer Mitfühlender“ bedeutet. Dieser Name wurde ihm gegeben, weil man glaubt, dass er die eigentliche Kraft des Mitgefühls aller Buddhas und Bodhisattvas ist, die Verkörperung der Macht dieses Mitgefühls. Er wird auch Chenrezig genannt, was „Der, der alle fühlenden Wesen gleichwertig und gleichzeitig sieht und sich immer ihnen und ihrer Bedürfnisse gewahr ist“ bedeutet.
Sein Blick auf die fühlenden Wesen ist allumfassend und beständig. Er wird manchmal auch als „Jigten Wangchug“ (tib., jig rten dbang phyug) bezeichnet, weil er mit seiner erleuchteten Aktivität immer wieder und auf jeden Fall erscheinen wird, bis die drei Bereiche der zyklischen Existenz in ihren Tiefen gelehrt sind. Er wird vollständig und allumfassend erscheinen, um Verbindungen herzustellen und die fühlenden Wesen der drei Bereiche zu befreien. Daher wird er auch als „Derjenige, der Macht über die Welt hat“ bezeichnet. Diese verschiedenen Namen beziehen sich alle auf eine Gottheit, nämlich Avalokiteshvara (Chenrezig). Es sind verschiedene Namen für verschiedene Emanationen derselben einen Essenz.
Eine Essenz – drei Kayas
Um das aus der Sicht der drei Kayas zu erklären, so ist Avalokiteshvara in der Natur des Dharmakaya der Buddha Amitabha, im Sambhogakaya ist er Nam Nang Den So und im Nirmanakaya ist er Chenrezig, der sowohl friedvoll als auch zornvoll erscheint. Im friedvollen Ausdruck erscheint er mit tausend Armen und tausend Augen oder mit einem Gesicht und vier Armen. Im zornvollen Ausdruck erscheint er als Hayagriva. Der zornvolle Ausdruck ist einfach einen intensive Erscheinung des völligen Mitgefühls, welches notwendig ist, um den Geist jener Wesen zu bezwingen, die durch friedvolle Methoden nicht gezähmt werden können. Hayagriva erscheint auch in verschiedenen Formen, manchmal mit neun Köpfen und 18 Armen, dann wieder mit drei Köpfen und sechs Armen, manchmal mit einem Gesicht und zwei Armen, manchmal rot, dann wieder schwarz. Wenn Avalokiteshvara als Beschützer, als Dharmapala erscheint, dann ist er der 6-armige Mahakala, der Beschützer uranfänglicher Weisheitserkenntnis. Wenn er als Reichtumsgottheit erscheint, dann ist er der Weiße Dzambhala.
Alle diese verschiedenen Erscheinungen sind nur unterschiedliche Methoden des Mitgefühls des Geistes, das sich manifestiert, um die Bedürfnisse und Bestimmungen aller fühlenden Wesen zu verwirklichen. Und da es zahllose fühlende Wesen gibt, die so verschieden voneinander sind, sind so zahlreiche verschiedene Methoden erforderlich. Die Zahl der Manifestationen dieser Gottheit ist unvorstellbar, aber dennoch sind sie nichts anderes als der Geist des Mitgefühls, der Ausdruck des großen Bodhicitta.
Daher kann man von einem gewissen Standpunkt aus betrachtet sagen, dass die Verwirklichung von Avalokiteshvara allein ausreichen würde, weil Avalokiteshvara die Essenz des Geistes aller Buddha ist und somit die Essenz aller Gottheiten. Darüber hinaus ist Chenrezig recht einfach zu verwirklichen. Es wird gelehrt, wenn man Avalokiteshvara intensiv für sechs Monate praktiziert, dass man dann gewiss ein Zeichen der Verwirklichung haben wird. Es ist unmöglich, dass kein Zeichen der Verwirklichung eintritt. Das bedeutet, dass man eine direkte Vision von Chenrezig oder ein anderes Zeichen der Verwirklichung haben wird. Es ist auch sehr leicht, das Mantra OM MANI PADME HUM zu rezitieren. Es geschieht ganz natürlich für jeden. Buddha Shakyamuni hat gesagt, dass unter all den verschiedenen Rezitationen es keinen größeren Nutzen gibt, der von einer anderen Rezitation herkommt, als vom OM MANI PADME HUM, dem Mani-Mantra. Unter allen Praktiken, die auf einer Rezitation basieren, ist das die kraftvollste, die wirksamste.
Mani-Mantra
Um eine andere Meditationsgottheit zu verwirklichen, müssen wir die Stufen der Erzeugung und Vollendung kennen. Wir müssen wissen, wie man eine Sadhana richtig ausführt, wir müssen wissen, wie man das alles in die Praxis bringt, wie man ein Mandala errichtet und wir müssen auch viele andre Dinge wissen, die im Grunde ganz schön schwierig und kompliziert sein können – einfach um die Gottheit zu verwirklichen. Aber die Verwirklichung von Avalokiteshvara ist ganz anders, weil dafür gar nichts notwendig ist.
Es war einmal ein Lama in Ost-Tibet, der als der Mani-Lama bekannt war, da die einzige Praxis, die er ausführte, die von Avalokiteshvara war. Er sagte, dass man einfach Avalokiteshvara praktizieren und das OM MANI PADMA HUM rezitieren könne, wenn man Verlangen verspürt oder irgendein anderes Geistesgift wie Eifersucht oder Wut, wenn irgendeine Negativität im Geist auftaucht. Mit anderen Worten man muss die Praxis nicht weglegen oder das Geistesgift verwandeln oder irgendetwas anderes machen, weil die Praxis selbst einfach die störenden Gefühle beseitigt. Das ist deshalb so, weil die sechs Silben des Mani-Mantras die Kraft haben, die sechs störenden Emotionen auszulöschen. Die sechs Silben haben auch die spezielle Kraft, das Tor zur Wiedergeburt in den sechs Daseinsbereichen zu schließen, weil ausnahmslos jedes einzelne fühlende Wesen in den sechs Bereichen in seinem Körper die sechs Silben hat, die mit den sechs Bereichen der Wiedergeburt korrespondieren. Der Grund für das Umherwandern in der zyklischen Existenz ist durch den Umstand des Vorhandenseins dieser sechs Silben gegeben.
Wenn man also OM MANI PADME HUM rezitiert, die sechs Silben von Avalokiteshvara, dann ist es wichtig zu verstehen, dass sie die Kraft haben, die gewöhnlichen sechs Silben Samsaras zu unterwerfen und zu beseitigen und dass sie die Tore zu den sechs Klassen der Wiedergeburt blockieren oder verschließen. Das ist eine der speziellen Kräfte des Mani-Mantras. Auch wird in diesem Leben das bloße Rezitieren von OM MANI PADME HUM Krankheiten, Plagen und dämonische Kräfte der Besessenheit beseitigen. Man wird glücklich und friedlich werden. Es zu rezitieren wird die eigene Kraft des Meditierens verbessern und man wird tiefere Ebenen der meditativen Versenkung in diesem Leben erlangen, welche man in zukünftige Leben mitnehmen wird. Zur Zeit des Todes wird man keine Wiedergeburt in den unteren drei Bereichen annehmen, sondern stattdessen in Dewachen, im westlichen reinen Land der Großen Glückseligkeit wiedergeboren werden oder im reinen Land von Chenrezig auf dem Potala. Und dann wird man nach und nach den Zustand der Buddhaschaft erlangen. Bis dahin werden sich Segen und Kraft der eigenen Praxis nicht erschöpfen, sondern wird weiter anhalten, um als Resultat die Erleuchtung zu bewirken.
Nutzen der Praxis
Avalokiteshvara ist wirklich anders als jede andere Gottheit. Viele Leute sind von zornvollen Gottheiten fasziniert und angezogen, wie Vajrakilaya, Hayagriva, Guru Dragpo usw., und sie wollen sie verwirklichen, aber ohne dass man genau weiß, wie man die Erzeugungs- und Vollendungsstufen der inneren tantrischen Praktiken der zornvollen Gottheiten praktiziert, ist es sehr schwer, sie zu verwirklichen. Avalokiteshvara ist jedoch sehr einfach zu verwirklichen und das Mani-Mantra ist sehr einfach zu rezitieren.
Es gibt viele die glauben, dass die Praxis von Avalokiteshvara und des Mani-Mantras etwas für das einfache Volk, für Kinder und alte Leute sei, aber eben nichts für echte Praktierende und Gelehrte. Diese Haltung beruht auf Unwissenheit und Ignoranz und ist ein absolutes Missverständnis. Tatsächlich ist Avalokiteshvara unter allen Gottheiten die Hauptgottheit und die wichtigste. Das ist heutzutage besonders wahr und war auch in der Vergangenheit wahr, zur Zeit der großen Panditas und Mahasiddhas Indiens, weil alle von ihnen ihre Verwirklichung durch die Praxis von Avalokiteshvara erlangt haben. Jeder einzelne von ihnen hatte Visionen von Avalokiteshvara. Und durch diese Visionen haben sie ihre spirituellen Verwirklichungen und Erkenntnisse gehabt. Und besonders in Tibet hatten alle großen Meister eine starke Verbindung mit Avalokiteshvara. Sie hatten Visionen von Avalokiteshvara, ihnen wurden prophetische Hinweise direkt von Avalokiteshvara zu teil und durch Avalokiteshvara erlangten sie ihre spirituellen Erkenntnisse.
Der Segen aus der Verwirklichung von Avalokiteshvara ist äußerst groß. Darüber braucht man keine Zweifel haben. Selbst das einmalige Rezitieren des Mani-Mantras ist äußerst nützlich, eigentlich unvorstellbar nützlich. Wenn man aus der Tiefe des Herzens zu Avalokiteshvara betet und das Mantra wirklich rezitiert, dann ist das eine sehr tiefgründige Praxis. Wenn man regelmäßig Avalokiteshvara praktiziert und das Sechs-Silben-Mantra rezitiert, dann ist es absolut sicher, dass man in diesem Leben keine Wiedergeburt in den niederen Bereichen annehmen wird. Das soll man bedenken und die Praxis in diesem Leben ausführen.
Man soll alle Erscheinungen als Avalokiteshvara sehen, alle Klänge als die Rede von Avalokiteshvara, was das Sechs-Silben-Mantra ist und man soll alle auftauchenden Gedanken als den Geist von Avalokiteshvara betrachten. Man soll das Mitgefühl und die liebende Güte für ausnahmslos alle Wesen haben, angefangen von den kleinsten bis zu den größten Lebewesen, weil alle einschließlich man selbst wünschen, glücklich zu sein und verlangen, Glück zu erfahren. Nicht ein einziges Wesen unter ihnen möchte leiden. Daher ist es immer wichtig, liebende Güte für alle fühlenden Wesen zu haben, den dreifachen Zustand des reinen Gewahrseins beizubehalten und so oft wie möglich OM MANI PADME HUM zu rezitieren.
Diese Belehrungen wurden von Yangthang Rinpoche gegeben und vom Ngak’chang Rangdrol Dorje (Enrico Kosmus, 2016) übersetzt. Möge es nützlich sein!