Autsch!!! Oder von der Kunst einen englischen Zahnarzt zu finden

Manchmal fördert ein harmloser Blick in den Spiegel Dinge zutage, die man besser nicht zu sehen bekommen hätte. Seit ein paar Wochen buhlt einer meiner Backenzähne um besondere Aufmerksamkeit. Immer wenn ich die steilen Stufen zu unserem Haus heraufkrauche und dabei nach Atem ringend kalte Luft einatme, zieht ein jäher Schmerz durch meine Kauleiste. Ich schiebe es lange auf eine temporäre Sache, doch dann wage ich nach dem morgendlichen Zähneputzen mal eine genauere Inspektion. Och nee! Da grient mich doch tatsächlich ein böses Loch an der Unterseite meines dritten Backenzahnes an. Es sieht merkwürdig aus, wie angeknabbert, als hätte ein winziges bakterielles Nagetierchen daran gewerkelt. Na schön, da bleibt mir wohl nichts weiter übrig, als einen englischen Zahnarzt aufzusuchen. Aber so einfach ist das eben nicht.

Die dentale Hühnerklasse
Während man in Deutschland einfach mal in der Praxis um die Ecke vorbeischlendert und sich noch am selben Tag ambulant behandeln lassen kann, heißt das in England etwa 3 Monate warten und auf einen Termin hoffen. Und zunächst heißt es, überhaupt erst mal einen Arzt finden, der neue Patienten aufnimmt, denn auch das ist nicht so einfach.

Als Neuankömmling bin ich grundsätzlich über den NHS, das staatliche Gesundheitssystem versichert, das heißt, dass mir eine Grundversorgung in jedem Fall zusteht, die allerdings auf das hierzulande verbotene Amalgam setzt und wirklich sehr minimal daherkommt. Und ich lediglich einen relativ geringen Zusatzbeitrag zu bestimmten Leistungen zahle. Das bedeutet aber auch, dass der Zahnarzt eben nicht viel daran verdient und sich möglichst darum drückt, NHS-Patienten aufzunehmen.Um diese zweitklassige, wie ich finde, Behandlung zu umgehen, darf jeder frei entscheiden, zahnärztliche Leistungen auch privat aus eigener Tasche zu zahlen. Das ist allerdings ein hoher Kostenfaktor. Als zweite Möglichkeit gäbe es noch eine Palette von Versicherungen und Gesundheitszahlplänen, wobei man da am Ende aber vermutlich meist mehr einzahlt, als man am Ende rausbekommt. Nun gut, als NHS-Patient ist man schon ein bisschen aufgeschmissen. Nichtsdestotrotz, 3 Monate warten, und womöglich bis Buxtehude trampen, kommt nicht infrage. Ich male mir aus, dass der Zahn in dieser Zeit bis auf seine Grundmauern ausradiert ist. Nee, so viel Zeit habe ich bei Weitem nicht.

Eine Nummer für den Notfall
Ich schmeiße also wieder mal die Wissensmaschine an (so nennt man Computer in Finnland, was ich toll finde), recherchiere tagelang im Netz und stoße schließlich auf eine immerhin nicht allzu abwegige Lösung meines Problems. Der NHS hat eine spezielle Hotline eingerichtet für all jene, die nicht kurz vorm Dahinscheiden stehen, aber trotzdem schnelle medizinische Hilfe oder einfach kompetenten Rat benötigen. An der Strippe hat man dann wohl ausgebildetes medizinisches Personal. Na das probiere ich mal. Ich komme sofort durch und habe eine äußerst freundliche Dame am Telefon, die erst einmal meine persönlichen Daten abfragt. Ich verstehe sie ziemlich schlecht, da sie äußerst schnell spricht und im Hintergrund weitere Stimmen wild durcheinanderquasseln. Sie tut mir etwas leid, dass sie nun auch noch jeden zweiten Satz wiederholen darf, weil der Ausländer am anderen Ende der Leitung wohl schwerhörig oder einfach dumm ist. Aber gemeinsam schaffen wir es und ich schildere ihr meinen Fall. Da ich fürchte, dass sie mir nur einen kalten Umschlag empfiehlt, übertreibe ich etwas. Ich habe plötzlich wahnsinnige Schmerzen, kann weder richtig essen, noch trinken und bin überhaupt ganz unpässlich. Sie rät mir, keine Überdosis an Schmerzmitteln zu schlucken und verspricht mir, nach einem Arzt in der Nähe zu suchen und so schnell wie möglich einen Notfalltermin zu buchen. Wunderbar. Klappt doch wie geschmiert. Dann legen wir auf und ich erhalte noch eine SMS mit der Nachricht, dass man mich innerhalb von zwölf Stunden zurückrufen wird, um meinen Termin zu übermitteln. Ich rechne kurz nach und müsste demnach bis ein Uhr nachts mein Telefon immer bei mir tragen. Na gut, dann bleibe ich eben mal länger wach. Als wir dann im Aldi den Wocheneinkauf begehen, klingelt natürlich mein Handy.Vor dem englischen Weichbrotregal lasse ich mir den Termin bestätigen und blicke hoffnungsvoll dem entgegen, was da kommen mag.

In der Zahnklinik
Dienstag um Viertel vor zwölf betrete ich dann die Edgerton Zahnklinik in Huddersfield, in die man mich verwiesen hat. Für den Notfalltermin muss ich allerdings blechen. 18,50 Pfund kostet mich der Spaß. An der Rezeption nenne ich meinen Namen und erhalte sofort ein Vertrautes: “Ah ja, Stefanie! Willkommen bei uns!” Halleluja, das ist mal ein herzliches Begrüßungskommando. Mit einem Fragebogen bewappnet schickt man mich in den rosarot gestrichenen Wartesaal. Wie war das noch? Lange Wartelisten? Der Raum hier ist bis auf zwei ältere Damen komplett leer und es kommt auch niemand mehr. Sehr merkwürdig. Ich überlege, ob ich ein Foto knipsen soll, erblicke dann aber das kecke Überwachungssystem und lasse das mal lieber sein. Pünktlich um Viertel vor zwölf ruft mich die Schwester in den Behandlungsraum, und zwar beim Vornamen, wie gehabt. Als ich den Raum betrete, weiß ich zunächst nicht, wer die Zahnärztin ist, denn niemand der beiden Damen trägt hier weiße oder blaue Klinikkleidung. Ganz im Gegenteil. Ich tippe auf die ganz in schwarz gekleidete kleine, eventuell pakistanischstämmige Person mit Kopftuch, die mir mädchenhaft entgegenkommt. Ich bin ziemlich beeindruckt von so viel Toleranz und Weltoffenheit. Eine moderne Muslima, die ihren Beruf ausübt und trotzdem ihrer Tradition treu geblieben ist. Ich bin begeistert.

Überraschende Diagnose
Und wie ich feststelle, nimmt sie sich Zeit, obwohl ich ja mit der NHS-Hühnerklasse reise, erklärt mir das Prozedere in aller Ruhe. Dann nimmt sie den Miesepeter genauer unter die Lupe und stellt Erstaunliches fest: Das ist gar kein Karies, der sich da durch meinen Zahn frisst, sondern Säure. “Jetzt muss ich Sie mal nach Ihrer Ernährungsweise fragen. Essen Sie viel Säurehaltiges wie Saft, Obst oder haben Sie aufsteigende Magensäure?”Alles kann ich verneinen. Dann fällt mir etwas ein, was eventuell der Übeltater sein könnte.
“Ich esse gern Salz- und Essig-Chips“, erwidere ich. “Und allgemein recht viel Essig.”   “Wie oft essen Sie denn diese Chips?”
“Sehr sehr oft.”
“Nun, das könnte der Grund sein. Am besten spülen Sie gleich ihre Zähne hinterher mit etwas Wasser.”

Was bitte? Zahnschwund durch regelmäßigen Chipskonsum? Was für eine Diagnose. Eine miese Nachricht eigentlich. Inzwischen bin ich da ganz eingeenglischt und tröpfele mir Essig sogar auf meine Pizza. Nun gut, so gehts dann wohl nicht weiter. Sie schlägt mir eine Füllung vor und klärt mich gleich über die Kosten auf. 30 Pfund in etwa kostet die Reparatur. Doch bevor sie loslegt, schießt mir noch etwas Kosmetisches durch den Kopf, denn ich habe gehört, dass NHS-Patienten nur Silberfüllungen bekommen. So ein hässlicher Fleck am Zahn sehe sicher gruselig aus. Da zahle ich lieber drauf. Also frage ich sicherheitshalber nach. “Nein, nein, sowas machen wir nicht bei den Zähnen in der Front, die man sieht. Das machen wir weiß. Nur die Hinteren betrifft das.”

Puh! Erleichtert lehne ich mich zurück und lasse das Ganze über mich ergehen. Also ich muss ja mal sagen, dass der schlimmste Teil in Deutschland eigentlich immer die Betäubungsspritze war. Was für ein übler Schmerz. Die englische sieht zwar doppelt so lang aus, gleitet aber rein wie durch Butter. Ich merke kaum etwas. Noch bevor das Narkotikum seine volle Wirkung entfalten kann, setzt die Gutste auch schon den Bohrer an. Innerhalb von zehn Minuten ist alles geflickt. Vom Loch keine Spur mehr zu erahnen. Ich würde mich gern in dieser Praxis registrieren lassen, eröffne ich ihr, doch sie macht mir wenig Hoffnung. Ich solle mich auf eine Warteliste setzen lassen, und falls ein Platz frei wird, würde man mich kontaktieren. Ich bedanke mich herzlich für die äußerst unkomplizierte Behandlung. Bevor ich den Raum verlasse, fragt die morgenländische Wunderheilerin mich noch, woher ich komme.
“Oh aus Deutschland”
“Dann heißt es wohl “Auf Wiedersehen”?   “Ja, das stimmt! Super!”
“Ich habe eine deutsche Freundin und versuche ein paar Wörter zu lernen.”

Ich freue mich sehr darüber. Wieder ein Enländer, der mir ganz unerwartet ein Stück Heimat entgegenwirft. Ich glaube, ich habe am heutigen Tag gelernt, zu vertrauen und meine für gewöhnlich ziemlich ausgeprägte Angst vorm Zahnarzt etwas in den Griff bekommen.



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