Autonome Kinder Teil 4 - Pubertät

Von Frühlingskindermama @fruehlingsmama
Ich freue mich, dass ich noch ein paar Informationen zu autonomen Kindern, diesen besonders selbstbestimmten, unbestechlichen und nicht manipulierbaren Wesen, gefunden habe, die ja in diversen Büchern von Jesper Juul erwähnt werden. Und diesmal geht es sogar um ältere Kinder, über die es noch weniger Aussagen gibt. Mein vermutlich autonomes Kind ist ja noch nicht einmal 5 Jahre alt, aber trotzdem interessiert es mich sehr, wie sich solche Kinder weiterentwickeln und welche Herausforderungen später noch auf die Eltern zukommen. In meinem Interview mit Jesper Juul meinte er, dass sie oft sehr erfolgreich werden, aber im Privatleben einen unbequemen, steinigen Weg gehen müssen und ihre liebsten und engsten Menschen wegen ihres großen Autonomiebedürfnisses oft vor den Kopf stoßen.
In Jesper Juuls Buch Pubertät - wenn Erziehen nicht mehr geht werden nach einem theoretischen Teil mit Juuls Gedanken zur Pubertät, in der sich seiner Überzeugung nach vor allem die Eltern verändern müssen, Gespräche mit zehn Familien aus einem Workshop mit Juul notiert, der unter dem Titel "Pubertät ist eine Tatsache, keine Krankheit" stattfand. Ab S. 103 wird von einem 12-jährigen Jungen berichtet, dessen Verhalten zu vielen problematischen Situationen in der Familie führt. Es kommt sehr schnell zu Eskalationen durch eine Verweigerungshaltung des Sohnes, es gibt verbal und körperlich unangenehme Situationen mit seinem Bruder und die Eltern fühlen sich wirklich im Alltag oft hilflos und überfordert. Der Vater bezeichnet die Familie als "Gewitterfamilie" (S. 104), in der schnell Emotionen hochkochen, und hat Angst vor dem, was noch kommen mag. Juul tastet sich durch seine Fragen an die Perspektive des Jungen und die bisherige Erfahrung der Eltern heran. Besonders problematisch scheint die fehlende Akzeptanz von Autorität zu sein und die Eltern fragen sich, ob sie etwas versäumt oder falschgemacht haben. Die Mutter sagt:  
"Denn das hatte er schon immer, im Kindergarten mit den Erzieherinnen, in der Schule mit den Lehrern, auch innerhalb des Familienkreises herrscht die Meinung, dass er ganz große Schwierigkeiten hat, Autoritäten anzuerkennen." (S. 114)
Diese Tatsache, die also schon ganz früh erkennbar war, und seine weiteren Beobachtungen und Einschätzungen bringen Juul zu der Überzeugung, dass es sich bei dem Jungen um ein autonomes Kind handelt. Er fragt noch einmal zum Kleinkindalter nach und die Mutter berichtet:
"Ich weiß nur, das habe ich schon oft gedacht, das war schon früh so, dass ich mich provoziert gefühlt habe oder nicht wusste, was ich machen soll."
"Und ich kann mich gut daran erinnern, als er noch wirklich klein war, unter einem Jahr, und keinen Mittagsschlaf mehr machen wollte."

"Es war einfach schon von Anfang an schwierig. In jeder Gruppe war sein Sozialverhalten schwierig. Also im Kindergarten, Grundschule oder das Problem jetzt mit seinem Bruder. Wo er noch mal provoziert und noch mal..." (S. 116)
Juul sagt im Buch Pubertät - wenn Erziehen nicht mehr gehtdazu Folgendes und bietet Hilfestellungen:
"Ich hab mehr und mehr eine Idee, eine Vorstellung, dass euer Sohn von Anfang an viel autonomer war als die meisten Kinder. Was ich immer höre: er kann sich sehr gut abgrenzen, er kann sehr gut sagen, was er will und was er nicht will, auch von Anfang an, er ist auch sehr stark. Und das heißt ja, das meiste von dem, was wir als Eltern oder Erwachsene oder Pädagogen an Liebe, Fürsorge, Unterstützung anbieten, will er nicht haben. (...) 
Dann habe ich einen Vorschlag. (...) Mit ihm muss man reden, verhandeln, sprechen, in einer Art und Weise, wo man sich vorstellt, er ist nicht 12, sondern 32. Das heißt, nicht Vater und Mutter spielen. Wenn das passiert, reagiert er allergisch, das kann er nicht ertragen. Das ist schwierig für ihn, weil er sich oft einsam oder alleine fühlt, und das ist sehr schwierig für Eltern, manchmal auch für Pädagogen oder Lehrer, weil man sozusagen mit einem ganzen Korb oder Herz voll Geschenken dasteht, die man ihm gerne schenken möchte, und er will die nicht haben. Und was kann ich denn sonst anbieten? Das ist natürlich unheimlich schwierig, denn so viele Alternativen haben wir ja auch nicht im Kopf. Ich hab' schon ein bisschen darüber gesprochen, dass man mit Anfang der Pubertät als Sparringpartner fungieren muss, und das kann man mit autonomen Kindern eigentlich von Anfang an machen. (...) 
Normalerweise sage ich, den meisten Kindern kann man einen Teller servieren und sagen: 'Hier gibt's was zu essen', und dann essen die Kinder. Mit diesem Jungen ist das nicht so, da muss man ein Buffet haben. Dann kommt er, wenn er Hunger hat, und dann wählt er, was er will. (...) 
Dabei muss man sich aber wirklich vorstellen, dass er ein Erwachsener ist. Wenn ich sage, dass es im Allgemeinen mit zwölf für Erziehung zu spät ist, dann war es hier eigentlich immer zu spät. Als Eltern von anderen Kindern kann man weitermachen, und es wird nur für ein paar Jahre unangenehm werden. Aber hier muss es aufhören. (...) 
Er braucht dringend diese Beziehung, aber eine Beziehung, in der er nicht als schwieriges Kleinkind behandelt wird. Sondern als 32-Jähriger, ich kann es nicht besser sagen. Sich das vorzustellen ist schwierig, er ist ja noch klein. Man kann zu ihm wie zu einem Freund gehen und ihn um Feedback bitten. Als Vater kann man sagen: 'Mein Gefühl ist, ich sollte jetzt so und so mit Dir umgehen, was glaubst Du?' Man kann ihn als Berater benützen, für die Elternschaft, für die Elternrolle. Er weiß genau, was er braucht und was er nicht braucht. Das ist das Besondere an diesen Kindern, die wissen das ganz genau, aber sie wollen, wie alle anderen, nicht gerne einsam sein." (S. 116ff.)
Er spricht noch kurz das Thema Vererbung an und fragt die Mutter: "Man kann sich immer auch als Elternteil überlegen: War ich auch so ein Kind?" Und als die Mutter bejaht, fragt er weiter: "Und was haben deine Eltern gemacht? Ist es deinen Eltern gelungen, dich 'zu knicken'?" Darauf die Mutter: "Ich glaube nicht. Meine Mutter hat vor zwei, drei Jahren mal gesagt: 'Es war immer schwierig, dich in die Familie zu integrieren.'" Verstanden hat sie sie wohl bis heute nicht. Und genau das ist das Problem: "Aber als Eltern eines kleinen Kindes möchten wir das natürlich gerne. Und das ist genauso hier. Er lässt sich nur integrieren, wenn er spürt: 'Ich kann sein, wie ich bin, und man soll mir nicht sagen, ich soll anders sein. Man soll mich überhaupt nicht 'benennen'." (S. 119)
Er fasst mit diesen Aussagen und Einschätzungen noch einmal die verstreuten Informationen zu autonomen Kindern zusammen und bündelt diese in dem Gespräch mit einer Familie. Besonders interessant ist, dass es um Aspekte der Pubertät geht, in der sich beide Seiten, Eltern und Kinder, oft besonders hilflos fühlen. Man sieht jedoch auch in diesem Fall wieder, dass autonome Kinder schon von Anfang an als "schwierig" oder ungewöhnlich empfunden werden. In der Pubertät nimmt das wahrscheinlich ähnlich wie in der Autonomiephase zwischen 2 und 4 Jahren noch einmal völlig neue Ausmaße an. Leider gibt es zu diesem Gespräch keine Rückmeldung der involvierten Familie über die Folgen und Veränderungen des Gesprächs, wie zu einigen anderen der im Buch festgehaltenen Gespräche. Auch fehlen wieder konkrete praktische Tipps und Hilfestellungen im Umgang mit autonomen Kindern. Wahrscheinlich muss hier jeder, unter Berücksichtigung der zentralen, immer wieder erwähnten Punkte, ausprobieren, was am besten funktioniert. Ein autonomes Kind ist ja nicht nur ein solches, sondern bringt noch jede Menge anderer Eigenschaften und Wesenszüge mit. Insofern gibt es wohl keine Patentrezepte. Ich muss ehrlich sagen, dass ich etwas Angst vor der Pubertät mit meinem autonomen Kind habe, vor allem wenn ich mich an seine Autonomiephase zurückerinnere, die uns wirklich nicht nur an, sondern über unsere Grenzen brachte. Aber vielleicht verändert er sich bis dahin auch noch und andere Charakterzüge treten stärker hervor.
Gibt es unter euch Eltern von pubertierenden autonomen Kindern, die Erfahrungsberichte beisteuern können? Was funktioniert bei euch gut und was überhaupt nicht? Habt ihr Tipps und Ratschläge?
Meine anderen Texte zu autonomen Kinder findet ihr hier:
Autonome Kinder
Autonome Kinder Teil 2
Autonome Kinder Teil 3 -Interview mit Jesper Juul
In diesem Text sind Affiliate Links enthalten