„Was die Vielfalt seiner Rebsorten angeht, ist Italien eines der reichsten Länder der Erde. In seinen Weinbergen wachsen rund 350 bekannte Varietäten. Einige sind weltberühmt: Nebbiolo und Sangiovese etwa. Aus ihnen werden die grossen piemontesischen und toskanischen Rotweine erzeugt. Andere haben nur regionale oder lokale Bedeutung. Weitere 330 namentlich bekannte Rebsorten existieren nur noch als genetisches Material in Genbanken. Und schließlich gibt es schätzungsweise 1200 Sorten, die noch gar nicht katalogisiert sind, weil von ihnen nur noch einzelne Stöcke existieren. Italien besitzt also einen großen Rebenschatz. Ihn zu erforschen, wird die Herausforderung der nächsten Jahrzehnte sein.“
Warum sind die modernen Reben nicht mehr die gleichen wie früher?
Natürlich sind die heutigen Reben nicht mehr die gleichen wie zu griechischen, gar kaukasischen Zeiten. In den 9000 Jahren ihrer Geschichte haben sie sich stark verändert. Es kam zu spontanen Kreuzungen mit wilden und anderen Kulturreben. Sie mutierten als Folge von Anpassungsprozessen. Um angesichts von Trockenheit oder Spätfrösten, heftiger Nahrungskonkurrenz oder starkem Schädlingsdruck zu überleben, musste sich das Erbgut differenzieren. Oft genügten schon ein paar Jahrzehnte im neuen Ambiente, damit sich ihr genetischer Code veränderte. Heute spiegelt er die Bedingungen wider, unter denen sie sich in ihrer zweiten, dritten oder vierten Heimat durchsetzen mußten. Am Ende war es der Mensch, der sie durch Verfrachtung in andere Gebiete bzw. durch Anbau unter ungewohnten Bedingungen zu diesen Anpassungsprozessen zwang. Jedenfalls haben die heutigen Reben nicht nur einen Ursprung, sondern viele Ursprünge.
“„Auch die sogenannten autochthonen Reben haben sich im Laufe der Zeit genetisch verändert. Es sind nicht mehr dieselben Reben wie früher.“
– Lorenzo Landi, toskanischer Önologe
„Unser einziges echtes Problem ist: Wir kennen unsere Reben noch zu wenig.“
– Franco Giacosa, in ganz Italien tätiger Önologe
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Welche Perspektiven bieten autochthone Sorten?
Die Rebenvielfalt Italiens darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß die zehn häufigsten Rebsorten 50 Prozent der Rebfläche des Landes bedecken. Unter diesen Top-Ten ist die Merlot die einzige nicht-italienische Sorte. Alle anderen Sorten haben eine italienische Identität. Sie sind autochton. Das bedeutet jedoch keineswegs, daß diese autothonen Reben alle hochstehen- de Weine ergeben. Viele autochthone Sorten sind minderwertig. Fachleute behaupten sogar: die meisten. Daß sie in den Weinbergen Italiens dennoch so häufig vertreten sind, hat mit der Ver- gangenheit zu tun. Sie sind ein Relikt jener Massenwein-Epoche, da allein die Menge und nicht die Qualität der Trauben zählte. Diese Sorten weiter zu kultivieren lohnt sich nicht – es sei denn, sie besitzen ein noch unerschlossenes Potenzial für bessere Qualitäten. Bei einigen autochthonen Sorten, bekannten wie unbekannten, dürfte das der Fall sein. So können aus der sizilianischen Cataratto, der am häufigsten in Italien angebauten Weißweintraube, die jahrzehntelang nur für anonyme Verschnittweine gut war, heute durch Mengenreduktion und standortgerechten An- bau gehobene Qualitäten erzeugt werden. Manche Kellereien werten sie durch Assemblage mit Chardonnay sogar noch weiter auf. Solange eine autochthone Sorte noch nicht vollständig erforscht ist und ihr Potenzial folglich nicht ausgeschöpft werden kann, sind internationale Sorten durchaus hilfreich, um Qualitätsverbesserungen zu ermöglichen. Die gesetzlichen Bestimmun- gen vieler DOCG-, DOC- und IGT-Weine nehmen auf diesen Umstand Rücksicht. Giacomo Tachis, einer der verdientesten Önologen Italiens und profunder Sizilienkenner, sagt über Zukunft des italienischen Weins: „Italien besitzt durch seinen Reichtum an alten Rebsorten ein großes Potenzial. Daß dieses Potenzial noch nicht ausgelotet ist, macht mich traurig. Aber daß Italien mit diesen Rebsorten, wenn sie erforscht sind, den Herausforderungen der Weinindustrie in den neuen Ländern der Neuen Welt trotzen kann, gilt als sicher. Das macht mich glücklich.
„Die autochthonen Reben sind kein Gegenmodell zu den internationalen Rebsorten – auch wenn die Idee verführerisch ist. Sie müssen erst gründlich erforscht und bewertet werden. Wenn sie sich dann in der Praxis als tauglich erweisen, können sie vielleicht internationale Rebsorten ersetzen.“
– Attilio Scienza, Rebenforscher
Wir bedanken uns recht herzlich bei Dr. Jens Priewe sowie dem Italienischen Institut für Aussenhandel für die freundliche Unterstützung.