Ich bin ja so niedergeschlagen! Woche für Woche, Monat für Monat habe ich das Prinzchen in den Schlaf gesungen, habe mir das Hirn zermartert, welches Lied noch ins Repertoire passen würde, damit ich nicht Mittag für Mittag, Abend für Abend das Gleiche singen muss. Habe den grossen Kindern oftmals die Gutenachtgeschichte abgekürzt oder gar gestrichen, damit das Prinzchen auch ganz bestimmt sein ausgiebiges Ständchen gesungen bekommt. Alles habe ich gegeben, wirklich alles und doch war es nie genug. Zwar durfte ich mehrmals diesen köstlichen Anblick geniessen, wie dem Kerlchen die Augenlider immer schwerer wurden und er schliesslich ganz einschlief, aber viel häufiger musste ich mich damit abfinden, dass meine Gesangskünste einfach nicht ausreichen, um meinen Jüngsten zufrieden zu stellen.
Eines Abends, nachdem ich mich beinahe heiser gesungen hatte, kam ich auf die glorreiche Idee, dem Prinzchen das iPad neben das Bettchen zu legen, damit er sich von der Musik, die ich heruntergeladen hatte, in den Schlaf wiegen lassen könne. Und siehe da, der Lausebengel fiel alsbald in seligen Schlummer. Also lag am nächsten Abend wieder das iPad bereit, um mich nach vier oder fünf Liedern abzulösen und auch am übernächsten Abend ging es so weiter. Schön, endlich waren meine Stimmbänder wieder etwas entlastet und die Grossen bekamen wieder etwas längere Geschichten erzählt.
Seit gestern aber haben sie Überhand genommen, die Geister, die ich rief. Da will ich, wie jeden Mittag und jeden Abend, zum ersten Lied anstimmen, doch was sagt das Prinzchen da? “Nei Mami! Nöd genge! Mugig lose!”, was soviel bedeuten soll wie “Nein, Mama, verschone mich mit deinem Gesang, ich will jetzt lieber wieder diese himmlische Musik hören, die du mir gestern abgespielt hast.” Man sieht, von einem Tag auf den anderen bin ich überflüssig geworden und nun frage ich mich natürlich: Was hat er denn, was ich nicht habe, dieser Johann Sebastian Bach, der seit einigen Tagen unser Prinzchen ins Land der Träume begleitet?