Vincent (r.) ist Komponist, Abdel (M.) ist Installationskünstler – von ihrer Arbeit leben können beide nicht.
„Selbstausbeutung“ ist ein interessantes Wort. In einem ZEIT-Artikel ist es mir gerade wieder begegnet. Eine Geigerin beklagt sich, dass sie in der freien Szene für Hungerlohn schuften müsse. Sie überlege daher, auf Musiktherapie, Musikmanagement oder Kulturvermittlung umzusatteln. Denn: „Wo liegt die Grenze zwischen Idealismus und Selbstausbeutung?“
Versuchen wir das zu verstehen. Wer beutet hier wen aus? Leben wir als Künstler in einer Sklavenhaltergesellschaft? Oder sind womöglich ganz andere Mechanismen am Werk?
Hier finde ich es hilfreich, sprachanalytisch vorzugehen.
Was macht eine Ausbeutungssituation aus?
In der Regel dreierlei:
1. Es existiert eine Zwangslage. Der Arbeiter hat nur die Wahl: entweder für fast kein Geld schuften und damit notdürftig überleben – oder verhungern.
2. Der ausbeutende Kapitalist nimmt die allmähliche gesundheitliche und/oder psychische Zerstörung des Arbeiters in Kauf.
3. Dem Kapitalisten kann diese Zerstörung egal sein, weil der Arbeiter während der Zeit, in der er noch arbeitsfähig ist, genügend Profit abwirft.
Vergleichen wir diesen klassischen Ausbeutungsmechanismus mit der heute beklagten „Selbstausbeutung“. Offensichtlich trifft hier vor allem Punkt 2 zu. Der Ausbeuter – in Personalunion mit dem Ausgebeuteten – nimmt seinen eigenen gesundheitlichen Ruin in Kauf. Er merkt, dass es ihm von Woche zu Woche schlechter mit seiner Arbeit geht. Er fühlt sich ausgebeutet.
Punkt 3 und – insbesondere – Punkt 1 treffen hingegen nicht zu. Kein Künstler in Deutschland befindet sich in einer existentiellen Zwangslage, die mit derjenigen eines Textilarbeiters im Manchester des 19. Jahrhunderts oder eines Minenarbeiters im heutigen Südafrika auch nur ansatzweise vergleichbar wäre. Niemand muss hierzulande verhungern. Niemand ist überdies gezwungen, mangels anderer Perspektiven als freier Künstler zu arbeiten. Die überwiegende Mehrheit der freien Künstler hat eine hohe formale Bildung und könnte mehr oder weniger problemlos auch in gutbezahlten, sicheren Jobs unterkommen.
Natürlich kann man einwenden: da der Künstler selbst der Ausbeuter ist, gibt es womöglich keine äußere, wohl aber eine innere Zwangslage: eine Besessenheit, die dem Künstler gar keine andere Wahl lässt, als seine Gesundheit zu ruinieren, um kompromisslos seinen künstlerischen Weg zu verfolgen.
Doch interessanterweise fällt das Wort „Selbstausbeutung“ gerade in diesem Kontext in der Regel NICHT. Vielmehr ist umgekehrt meist dann von „Selbstausbeutung“ die Rede, wenn sich jemand entscheidet, diesen Weg VERLASSEN zu wollen. „Schluss mit der Selbstausbeutung!“ schallt es einem dann entgegen.
Wie verträgt sich dieses frei gewählte Schlussmachen mit dem unausweichlichen inneren Zwang, der dem Künstler eben NICHT die Wahl lässt, einfach mal so umzusatteln und in einen bequemeren, sichereren Job zu wechseln?
Nun, vermutlich existiert in den allermeisten Fällen, wo von Selbstausbeutung die Rede ist, überhaupt gar keine Zwangslage – weder eine innere noch eine äußere. Das Wort „Selbstausbeutung“ ist vielmehr ein Euphemismus, um die Mechanismen zu verschleiern, die tatsächlich am Werk sind.
Schon mit drei Jahren musste Greg zum ersten Mal in die Nylonwerke. Diese Erfahrung zeichnet ihn bis heute.
Diese Mechanismen an sich – sofern sie ehrlich benannt werden – sind natürlich absolut legitim und ehrenwert. Es ist völlig in Ordnung, wenn jemand nicht (mehr) als freier Künstler arbeiten möchte. Wenn er mehr Sicherheit in seiner Zeitplanung und Regelmäßigkeit auf seinem Bankkonto braucht. Wenn er genug hat von kontinuierlich durchgearbeiteten Nächten und ständigem Hinterherjagen nach Deadlines. Wenn er nicht ständig für alles und jedes selbst verantwortlich sein will. Wenn ihm ein gemütlicher Abend mit Freunden und Rotwein im Zweifel wichtiger ist, als sein nächstes Konzert oder seine nächste Ausstellung NOCH radikaler anzuschärfen.
Anscheinend ist es aber schwer, dies offen zuzugeben – vor allem dann, wenn sich zu alledem noch der leise Verdacht gesellt, dass die eigene künstlerische Arbeit womöglich doch nicht GANZ so bedeutend und revolutionär ist, wie man das als junger Feuerkopf einst gehofft hatte.
Und hier kommt der Euphemismus gut zupass. Rein sprachlich enthält das Wort „Selbstausbeutung“ zwar eine Anklage gegen sich selbst: Ich selbst bins! Ich selbst bin der Ausbeuter! Ich selbst schade mir! Und doch geht – anders als bei Selbstverletzung oder Selbstmordgedanken – niemand wegen Selbstausbeutung zum Psychiater. Denn das Wort impliziert vor allem eine Anklage gegen die Gesellschaft: Die Gesellschaft ists! Sie lässt es zu, dass Künstler von ihrer Arbeit nicht leben können! Die Zustände ist schuld, dass Künstler keinen sicheren Job haben! Dass sie trotz jahrzehntelanger Ausbildung nicht angemessen honoriert werden! Und dass sie, wenn sie dennoch als Künstler arbeiten wollen, eben zur Selbstausbeutung gezwungen sind.
So wird die Entscheidung: „Das mache ich nicht mehr mit!“ zum letzten rebellischen Akt einer tragischen Künstlerlaufbahn stilisiert. Auch wenn sichs eigentlich viel eher um eine simple Anpassung des eigenen Lebensentwurfs handelt. Unter dem Schlagwort „Selbstausbeutung“ lässt sich bequem die Fiktion aufrechterhalten, man wäre in einer anderen Gesellschaft, unter einer anderen Sonne vielleicht ein großer Künstler geworden. Aber die Zustände haben es nicht zugelassen. Das ist schön, bequem & unkompliziert. Angesichts der hier und heute – im internationalen wie historischen Vergleich – für Künstler immer noch recht komfortablen Situation, und angesichts der Millionen real ausgebeuteten Menschen auf dieser Erde finde ich es aber im Grunde nur eins: larmoyant und selbstmitleidig.