HOFFNUNG IST DAS EINZIGE DAS BLEIBT. DAS EINZIGE, DAS DIR, SOLANGE DU LEBST KEIN KERKER NEHMEN KANN.
(Vincent Deeg)
Keiner der Gefangenen der politischen Station konnte erklären, woher dieses Gefühl kam. Was sie auslöste, diese Vorahnung, die beinahe jedem der Strafgefangenen sagte, dass es wieder einmal soweit war. Waren es vielleicht die angeblich verräterischen Zeichen, von denen der eine oder andere behauptete, sie zuvor bemerkt zu haben? War es das Verhalten des Wachpersonals, das sich laut Aussage anderer plötzlich geändert hatte oder das rege und ungewöhnliche, bis tief in die Nacht gehende Treiben der Kleiderkammer, dessen hell erleuchtete Fenster man von einigen Schlafräumen des Hauses 3 aus hatte sehen könne?
Gab es überhaupt ein Zeichen dafür oder waren das alles nur Bilder der Fantasie? Bunte Wunschträume und wilde Spekulation, um sich das Leben in der Gefangenschaft etwas erträglicher, um sich selbst und vielleicht auch den anderen neue Hoffnung zu machen.
Eine Frage, die sich den Insassen dieser Abteilung immer wieder stellte. Die aber trotz der Tatsache, dass sich immer wieder auch Gefangenen fanden, die all diese Beobachtungen als puren Unsinn abtaten nichts daran änderte, dass sich zumindest in dem einen Punkt, ob dieses Gefühl, diese Vorahnung tatsächlich existierte oder nicht alle einig waren.
So, wie auch an diesem einen Morgen. Als wieder einmal und das noch vor dem offiziellen Wecken beinahe alle Gefangene des acht Mann Schlafraumes gleichzeitig erwachten. Als sich wieder einmal diese Unruhe unter den Männern breit machte und man gemeinsam versuchte, dem mal lauten, mal leisen und viel zu frühen Treiben auf dem Traktflur, den sie die Piste nannten eine erklärende Information zu entlocken.
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Es war dasselbe Schauspiel, das sich immer wieder aufs Neue abspielte. Ein Schauspiel, dessen Anfang jedes Mal damit begannen, dem anderen zu sagen, wie sicher man wäre, dass er derjenige sei, für den sich an diesem Morgen die Zellentür das letzte Mal öffnen würde und wie sehr man sich für ihn freue, dass er es dann bald hinter sich hätte.
Jedoch nicht, ohne ganz tief im Inneren darauf zu hoffen, neben dem des Freundes, auch den eigenen Namen zu hören. Nicht ohne, während man immer mehr schweigend auf die Zellentür starrte und den Geräuschen lauschte, die sich auf der Piste näherten dabei zu hoffen, selbst einer der wenigen Auserwählten zu sein, die man zu diesem seltenen und von jedem Gefangenen lang ersehnten Transport nach Kalle Malle holte.
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Kalle Malle. Für manch einen nur ein Gefängnis der Staatssicherheit, das sich in dem ehemaligen Karl-Marx-Stadt befand. Für viele andere jedoch war es der Ort, in den sie all ihre Hoffnung legten. Denn dieser war mehr als nur ein Stasi Gefängnis. Es war die letzte Station, die allerletzte Haltestelle, von der aus es, zumindest für die, die es auf die Liste derer geschafft hatten, die man als lukrative und Devisen einbringende Handelsware zum Verkauf in den Westen ausgewählt und aus allen Gefängnissen der DDR zusammen geholt hatte mit dem Bus in die Freiheit ging.
Ja. Das war wohl der größte Traum eines jeden politischen Gefangenen. Der Traum, in dem sich am frühen Morgen, noch lange vor dem Aufstehen die Tür des Schlafraumes öffnet und ein Wachmann nicht nur seinen Namen nennt, sondern auch die Worte „Sachen packen, Strafgefangener. Sie gehen auf Transport.“ sagt.
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Auch Kay, einer der acht Gefangenen aus diesem Schlafraum hatte damals diesen Traum. Er war einer der so genannten 213ner*, ein Republikflüchtling, den man gemeinsam mit einem Freund gefasst, zu einer Haftzeit von sechzehn Monaten verurteilt und nach einem dreimonatigen Aufenthalt in der U-Haft Rostock in dieses Gefängnis gebracht hatte. Ein junger Mann, der es auf Grund seines Widerstandsdenkens und der damit verbundenen Arbeitsverweigerung nicht nur geschafft hatte, in dieser recht kurzen Zeit gleich mehrere Male in einer der dunklen, kalten und nach Feuchtigkeit stinkenden Arrestzellen zu landen, sondern sich auch eine Menge Feinde unter den Gefangenen zu machen.
Feinde unter den Strafgefangenen? Wie war so etwas möglich? Waren nicht alle diese Gefangenen aus politischem Grunde an diesem Ort? Sollte man nicht annehmen, dass gerade diese Inhaftierten hätten zusammen halten müssen?
Fragen, die man sowohl mit einem klaren „Ja“ als auch mit einem ebenso klaren „Nein“ beantworten muss. „Ja“ Wenn es um die Frage geht, ob eine Feindschaft unter diesen Gefangenen möglich war. Denn zum einen gab es die, die wirklich zu einander hielten, sich gegenseitig stützten und beschützten und zum anderen gab es die, die trotz ihrer eigentlichen Zugehörigkeit nur ihren eigenen Vorteil sahen. Gefangene, die aus diesem heraus ihre Kameraden an das Wachpersonal oder sogar an die Stasi verrieten und damit, von den Mitgefangenen unbemerkt die Seiten wechselten.
„Nein“ Wenn es darum geht, ob all diese Gefangenen aus einem politischen Grunde an diesem Ort waren. Denn das war nicht der Fall. Denn natürlich war man nicht dumm genug, diesen teilweise hochgradig Intelligenten Feinden des Staates, einer Gruppe, die neben dem Zimmermann, dem Maurer oder dem Kraftfahrer auch aus dem Schriftsteller, dem Zahnarzt oder dem Professor für Physik bestand das Zepter in die Hand zu legen. Hätte dies doch leicht den Verlust der Kontrolle bedeuten. Und das war etwas, das die Herren der Partei der SED verständlicher Weise auf gar keinen Fall riskieren wollte.
Stattdessen bediente man sich lieber eines, schon damals, in der NS Zeit erfolgreichen Werkzeuges. Dem Kapo. Ein in der Regel krimineller Schläger, den man natürlich nicht Kapo, sondern „Brigadier“ nannte und den man mit der Beaufsichtigung der politischen Gefangenen betraute. Ein Posten, der eine Menge Vergünstigungen mit sich brachte. Jedoch nur, solange die Opfer, anders konnte man die, die der empfohlenen Willkür und der geduldeten Gewalt dieser Verbrecher schutzlos ausgeliefert waren nicht nennen funktionierten.
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Kein Wunder also, dass sich Kay, der nicht bereit war, sich seinem „Brigadier“ und dessen um sich gescharten und mindestens ebenso kriminellen Schergen zu unterwerfen schon in so kurzer Zeit so viele Feinde gemacht hatte. War er doch einer von diesen Gefangenen, die nicht funktionierten und damit dafür sorgten, dass all die schönen Vergünstigungen, die sich diese Männer beschafft hatten in Gefahr gerieten.
Man kann sich sicher vorstellen, dass das etwas war, das man sich nur ungern gefallen ließ. Und, dass es unter diesen Umständen nicht nur leicht geschehen konnte, dass die Gesundheit des Verursachers dieses Makels in große Gefahr geriet, sondern auch dessen Leben. Dass dieser einem plötzlichen Unfall zum Opfer fiel, der das Problem auf eine zwar tragische aber doch effektive Art und Weise löste.
Ein Unfall, der Kay bereits mehr als einmal Male angekündigt wurde und dessen Eintreffen nur noch eine Frage der Zeit war.
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Es war also mehr als nur der Wunsch, endlich in die bis dahin unerreichbar scheinende Freiheit zu gelangen, der Kay, der an diesem Morgen auf seinem unteren Teil des alten Doppelstockbettes saß und wie gebannt auf die noch immer verschlossene Tür starrte, während er hoffend den Schritten lauschte, die sich deutlich hörbar dem Zellentrakt näherten, zu dem dieser Schlafraum gehörte.
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Doch wird sich diese Zellentür an diesem frühen Morgen öffnen? Und wenn ja. Wird auch Kay unter den Auserwählten sein, die man zum Transport nach Kalle Malle aufruft?
Wir werden es im nächsten Teil erfahren.
Diese Geschichte beruht auf eine wahre Begebenheit.
*Unter den Gefängnisinsassen verwendete Bezeichnung für einen Strafgefangenen, der wegen des § 213 (Ungesetzlicher Grenzübertritt/auch Republikflucht) des StGB der DDR verurteilt wurde.