(Vincent Deeg)
Wer kennt sie nicht, diese Momente, die oft nur ein paar wenige Minuten lang dauern, die uns aber doch erscheinen, als währten sie eine halbe Ewigkeit.
So wie bei Kay. Als er, vor lauter Anspannung am ganzen Körper zitternd auf seinem Bett saß, während er, wie seine Kameraden inzwischen auch schweigend auf die noch immer verschlossene Zellentür starrte und den zwar langsam aber stetig näher kommenden Geräuschen lauschte, die durch die Tür in den Schlafraum drangen.
Eine Ansammlung von Geräuschen, an deren Anfang das metallische Quietschen und das darauf folgende und im ganzen Haus hörbare Krachen der schweren und sich kurz nach ihrem Öffnen wieder schließenden Gittertür stand, die inmitten eines links und rechts fest in den Wänden verankerten Gitters den Weg zum Treppenhaus versperrte.
Der Auftakt eines Konzertes, das sowohl aus dem Krachen einiger schwerer Türriegel und dem Klappern von Schlüsseln bestand, die ebenso laut und ungeachtet der noch recht frühen Tageszeit die Kastenschlösser einiger Zellentüren öffneten, als auch aus dem unverkennbaren Geräusch, das die harten Sohlen und Absätze der von den Schließern getragenen Militärschuhe verursachten, wenn sie den aus quadratisch angeordneten Steinplatten bestehenden Fußboden der Piste berührten.
Eine Geräuschkulisse, die für die in ihren Schlafräumen eingesperrten und vor Aufregung und Anspannung fast fiebernden Gefangenen nur eines bedeuten konnte, die keinen Zweifel mehr daran übrig ließ, dass es sich bei dem Treiben auf der Piste, das niemand mit dem üblichen und verhassten Morgensignal oder dem Ausruf „Nachtruhe beenden“ angekündigt hatte tatsächlich um die Vorbereitung eines Transportes nach Kalle Malle handelte.
*
Ja. Es war wieder mal so weit. Doch würde Kay an diesem Morgen auch seinen Namen hören? Würde man auch ihn dazu auffordern, seine Sachen zu packen? Oder würde er, wie schon so oft wieder nur dabei zusehen, wie dies ein anderer tat?
Eine Frage, die ihm schon sehr bald beantwortet werden sollte. Als Kay und die anderen seines Schlafraumes die Schritte hörten, die sich ihrer Zellentür nährten, als die beiden stählernen Riegel beinahe donnernd zur Seite flogen und einer der Schlüssel des schweren Bundes ins Schloss krachte, das jeder der Schließer und das nicht nur zum Schließen an einer langen Kette bei sich trug.
Als sich, nur eine Sekunde später die Tür öffnete und Unterleutnant Ludwig Walter*, der so genannte „Erzieher“ dieser Station in den Raum trat.
*
Unterleutnant Ludwig Walter*. Ein sehr hagerer und stets schlecht gelaunter Mann um die vierzig, den man, obwohl von den meisten Gefangenen kaum ernst genommen mit der leidigen und undankbaren Aufgabe betraut hatte, aus dem bunt zusammen gewürfelten Haufen politischer Staatsfeinde wieder anständige und dem Staate treu ergebene DDR Bürger zu machen. Eine Aufgabe, die nicht nur von Anfang an zum Scheitern verurteilt war, sondern die ihm auch, da seine so genannten „Zöglinge“ nur selten das taten, was er von ihnen verlangte immer wieder eine Menge Ärger einbrachte und mindestens genauso oft dafür sorgte, dass Ludi*, wie die Gefangenen ihren „Erzieher“ heimlich nannten nie zu einem richtigen Leutnant befördert wurde.
Und genau dieser Unterleutnant stand nun in der Tür des Schlafraumes um ausgerechnet dem Gefangenen, den er am meisten hasste, den er mehr als nur einmal mit den Worten „Sie, Strafgefangener Herer kommen nie in den Westen“ verhöhnt hatte zu sagen, dass er auf Transport gehen würde.
*
„Strafgefangener Kay Herer. Sachen packen. Sie gehen auf Transport.“ Zischte Ludi* durch seine schmalen Lippen, während er sich beinahe auf die Zunge bis und es vermied, dem Gefangenen, von dem er sich sicher war, dass der ihn nur triumphierend angrinsen würde ins Gesicht zu sehen. Doch natürlich hatte dieser eine Menge Besseres zu tun, als sich mit diesem Mann, der in seinen Augen kaum mehr als ein Abziehbild eines solchen war zu beschäftigen.
Wie trunken und sein Glück kaum fassen könnend, sprang Kay von seinem Bett auf, um sich, natürlich erst, nachdem er sich noch ein halblautes „Ja wohl, Herr Unterleutnant.“ heraus gepresst hatte dem zu widmen, das ihm von seinem „Erzieher“ aufgetragen wurde. Um seine Sachen zu packen und natürlich, um sich, begleitet von einer Menge herzlicher Umarmungen und Glückwünschen von seinen Mitgefangenen, von seinen Kameraden zu verabschieden.
*
Ganze zehn Minuten blieben ihm für seinen Abschied, für seine Katzenwäsche und für das Räumen seines Schrankes, der sich in einem der beiden Tagesräume befand. Dann ging es, schwer bepackt mit einem schnell zusammen gebundenen Bündel, dessen Inhalt aus seinem Bettzeug, seiner restlichen Gefängniskleidung und aus all den Dingen bestand, die er in dieser kurzen Zeit zufassen bekommen hatte und das von einer der schwarz grauen Armeedecken zusammen gehalten wurde über die menschenleere Piste. Dort, wo ihn Ludi* noch ein paar weitere Minuten an der Gittertür stehen ließ. Bevor er sich endlich bequemte und mit seinem Transporter, der Kay nun war über die ebenso leere Treppe das Haus verließ.
„Sie gehen jetzt zum Einkauf und geben all Ihr Geld aus. Strafgefangener Herer“ Brummte Ludi* vor sich hin, während er, als würden ihn die anderen, an den geöffneten Fenstern stehenden und ihrem Kameraden laut zu jubelnden Gefangenen nicht im Geringsten interessieren vor Kay her lief, eines der Tore aufschoss, die die einzelnen Bereiche der Gefängnisanlage verschlossen und mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf die Baracke zeigte, an der jeder Gefangene, wenn auch zu einer anderen Tageszeit von dem wenigen Geld, das er in den dahinter liegenden dunklen Werkhallen für seine Sklavenarbeit bekam seine kläglichen Einkäufe tätigen konnte.
Dann ging es, als Kay seine ganzen neunzig Mark Knastgeld, der stolze Ertrag eines ganzen Monates in Zigaretten und in ein paar Packungen Kekse umgewandelt hatte direkt in die Effektenkammer. Dort, wo man die persönliche Habe aller Strafgefangenen aufbewahrte und wo man bereits mit einem Stapel aus seit Monaten ungewaschener Kleidung auf ihn wartete.
Es fällt wohl nicht sonderlich schwer, sich vorzustellen, in welch einem Zustand sich eine Kleidung befinden wird, die von ihrem Besitzer bereits vor der Festnahme einige Tage lang getragen wurde. Genauso, wie es nicht schwer sein wird, sich vorzustellen, wie diese aussieht, vor allem aber wie sie stinkt, wenn man diese schmutzige Kleidung nach einer monatelangen Konservierung in einem Plastiksack aus demselben hervor holt. Und das, obwohl man den Gefangenen bei ihrer Ankunft versprach, dass man alle Sachen, die in der Effektenkammer landeten von einer Wäscherei reinigen lassen würde.
Eine Lüge, wie Kay, als er seine Sachen in Empfang nahm feststellen musste. Doch was sollte er tun? Sich beschweren vielleicht? Was hätte es genutzt? Vermutlich nichts. Und so ließ er es, in der Voraussicht auf die bereits auf ihn wartende Freiheit und aus der damit verbundenen Gewissheit heraus, sich schon bald andere und vor allem saubere Sachen kaufen zu können auf sich beruhen und zog die zerknitterten und stinkenden Sachen an.
*
Kay hätte sicher nicht so gelassen reagiert, hätte er zu diesem Zeitpunkt bereits gewusst, wie lange es bis zu diesem Augenblick, der ihn zu einem freien Mann machen sollte noch dauern würde. Hätte er geahnt, welch eine lange und strapaziöse Odyssee, vor allem aber welch eine noch viel längere Wartezeit noch vor ihm lag.
Und Unterleutnant Walter*? Auch er ahnte, als er Kay wortlos für etwa zehn Minuten in eine der Transporterzellen sperrte, nichts von dem, das dieser Morgen, der seiner Ansicht nach kaum mehr schlimmer werden konnte noch für ihn bereit hielt.
Denn während Unterleutnant Walter* weiter die Zeit vertrödelte, immerhin waren seit dem Wecken des zum Transport nach Karl-Marx-Stadt georderten Strafgefangenen ganze zwei Stunden vergangen, wartete nur ein paar Türen weiter jemand darauf, dass man ihm den bestellten Gefangenen brachte.
Ein kleiner, unscheinbarer und in zivil gekleideter junge Mann, ein Offizier des MfS, der bereits seit einer geschlagenen Stunde auf Walter wartete und der, als es dann endlich soweit war, als sich Ludi* endlich mit seinem Gefangenen bei ihm sehen ließ kein Blatt vor den Mund nahm und den immer kleiner werdenden Unterleutnant nach allen Regeln der Kunst und ohne darauf zu achten, dass ein Strafgefangener in der Nähe war zusammen stauchte.
Man kann sich vielleicht vorstellen, was sich in diesem Augenblick in Kay abgespielt hat, als er miterleben durfte, wie dieser kleine und unscheinbare Mann diesen Unterleutnant, der ihn und die anderen so lange tyrannisiert hatte und der nun vermutlich am liebsten in den Boden versunken wäre zusammen faltete. Welch ein innerer Vorbeimarsch das für Kay gewesen sein muss und wie schwer es ihm fiel, sich das Lachen zu verkneifen.
Doch machte das diesen Mann in irgendeiner Form sympathisch? Nein. Denn der blieb trotz allem, was er war. Ein Offizier der Staatssicherheit.
*
Zehn lange Tage sollte es noch dauern, bis man Kay und all die anderen, die man für den Verkauf in den Westen vorgesehen hatte in diesen entließ. Zehn Tage, die mit einer Fahrt in einem der kleinen, von der Staatssicherheit als Gefangenentransporter verwendeten Barkas B1000 Kastenwagen begannen. Eine Reise, in der Kay, mit Handschellen gefesselt
ganze fünf Stunden lang in einer der dunklen und kaum belüfteten Zellen saß, die so klein waren, dass eine Bewegung kaum oder gar nicht möglich war. Eine fünfstündige Odyssee, auf der man dem Gefangenen nicht nur das Austreten, sondern auch jegliche Versorgung mit Essen und Trinken verwehrte.
Es sollte die letzte dieser unmenschlichen Behandlungen sein. Denn anders, als es Kay bisher von der Staatssicherheit kannte, ging man in Karl-Marx-Stadt verhältnismäßig vernünftig und bemerkenswert korrekt mit den Gefangenen um. Handelte es sich hierbei doch um eine wertvolle Ware, die man gewinnbringend verkaufen wollte.
Statt diese Warengüter also mit irgendwelchen Verhören zu malträtieren, ließ man sie in ihren, mit Glasbausteinfenster und Doppel- und Dreistockbetten versehenen Fünf Mann Zellen in Ruhe, gab ihnen etwas zum lesen, wobei es sich bei den angebotenen Büchern, wen wundert es, ausschließlich um Werke mit kommunistischem Hintergrund handelte und holte sie nur heraus, wenn es entweder darum ging, etwas zu unterschreiben, etwas zu klären, Geld auszugeben oder um sie zur Freistunde, das allerdings geschah erst am sechsten Tag wie Tiere im Zoo in den so genannten und scharf bewachten Tigerkäfig zu stecken.
*
Etwas zum unterschreiben? Dafür gab es nicht nur den Antrag auf Ausbürgerung aus der Staatsbürgerschaft der DDR, sondern auch ein Schriftstück, das diesen Staat, die DDR dazu berechtigen sollte, die durch den Gefangenen entstandenen Gerichtskosten in Höhe von 450 Mark, eine Summe, die natürlich nicht in Ost-Mark, sondern nur in harter D-Mark zu zahlen war gerichtlich einzufordern.
Etwas zum klären? Das waren zum Beispiel Fragen der jeweiligen Eigentumsverhältnisse. Die Fragen danach, was der eine oder andere besaß, dass sich der Staat nun unter den Nagel reißen konnte.
Geld ausgeben? Eine Sache, die in Kalle Malle weniger erlaubt, als viel mehr gefordert wurde. Galt es doch nicht nur sämtlichen Besitz an sich zu reißen, der bei dem einen oder anderen Gefangenen außerhalb des Gefängnisses zu holen war. Nein. Man wollte auch
noch das wenige Geld haben, das sich jeder der Gefangenen, je nach der Länge seiner Haftzeit als Rücklage angespart hatte.
Dazu bot man den Gefangenen eine verhältnismäßig große Menge an Waren an, die sie, natürlich zu völlig überteuerten Preisen kaufen konnten. Ein Angebot, das, zumindest für jemanden, der gerade aus einem der DDR Gefängnisse kam, keine Wünsche offen ließ.
Doch was sollte man mit all dem Zeug, wenn man kurz davor stand, in den Westen zu gehen. Was sollte man mit dem pfundweise angebotenen Kaffee und Tee oder den DDR Zigaretten anfangen, die man dort stangenweise verkaufte? Wozu sollte man sich neu einkleiden, wenn man, so wie Kay, der seine Sachen inzwischen mit der Hand gewaschen hatte noch eine eigene, wenn auch stark in Mitleidenschaft gezogene Bekleidung besaß?
Fragen, die die Männer mit den Listen, auf denen das bis dahin angesparte oder bei der Verhaftung sichergestellte Geld verzeichnet war nicht interessierten. Für sie ging es nur darum, dass die darauf notierten Zahlen nicht nur kleiner, sondern zu einer Null wurden.
Ein weiter Weg, wenn man bedenkt, dass die Summe, die hinter Kays Namen stand und die sich aus seiner Rücklage und aus dem zusammen setzte, dass man während seiner Verhaftung bei ihm fand eine, zumindest für DDR Verhältnisse stolze Höhe von 900 DDR Mark hatte.
Was sollte er mit diesem vielen Geld tun? Sollte er sich vielleicht kiloweise Kaffee und stangenweise Zigaretten kaufen? Nur, um später, im Westen alles in den Müll zu werfen? Ein Problem, für das es eine Lösung gab. Natürlich erst, nachdem Kay, der sich notgedrungen für den Kauf einer Packung Kaffee und einiger Stangen Zigaretten entschied, etwa 300 Mark ausgegeben hatte.
Denn nun erzählte ihm einer der Herren, die den Verkauf kontrollierten, dass er, statt es für den Einkauf zu verwenden, sein gesamtes Geld auch an einen Verwandten hätte schicken können. Eine viel zu späte und grinsend gegebene Information, für die Kay diesem Mann zu einem anderen Zeitpunkt und an einem anderen Ort sicher an die Kehle gesprungen wäre. Doch nun blieb ihm, da er seine baldige Ausreise nicht gefährden wollte nichts anderes übrig, als diese Frechheit und die gerade begangene Verschwendung herunter zu schlucken und dafür zu sorgen, dass der Rest, der von seinem Geld noch übrig war, an seiner in Rostock lebende Mutter geschickt wurde.
**
Ja. Herunterschlucken. Das war etwas, das man in der DDR, speziell aber in einem DDR Gefängnis und ganz besonders, wenn man, so wie Kay kurz davor stand, in den Westen abgeschoben zu werden lernen und beherrschen musste.
Doch es sollte nicht mehr lange dauern, bis auch diese menschenverachtende Regel für ihn an Bedeutung verlor. Denn Kay verließ, so, wie die vielen anderen, die man in Busse steckte und zur Grenze fuhr, am 12. August 1987 das Gebiet der DDR.
Eine lange und furchtbare Reise, die endlich ihr Ende fand. Und ein Leben in Freiheit, das nun endlich begann.
Diese Geschichte beruht auf eine wahre Begebenheit. Sie wurde mir von Kay erzählt.
*Diese Namen wurden geändert.