Urteil des Schwurgerichts Frankfurt am Main vom 19. und 20. August 1965 4 Ks 2/63
Quelle für den Wortlaut: holocaust-history.org/german-trials/auschwitz-urteil.shtml | Kopie auf archive.org
Share: Facebook Twitter Myspace MSN Live Yahoo LinkedIn Google PlusIV. Beweiswürdigung
1. Allgemeine Vorbemerkung zur Beweiswürdigung
Bei der Feststellung der individuellen Beteiligung der Angeklagten an den in dem Konzentrationslager Auschwitz begangenen Mordtaten, sei es an Massenmorden, sei es an Einzeltötungen, sah sich das Schwurgericht vor ausserordentlich schwierige Aufgaben gestellt. Die Angeklagten selbst trugen zur Aufklärung nur sehr wenig bei. Soweit sie eine Beteiligung zugaben, schwächten sie diese ab, stellten sie verzerrt dar oder hatten stets eine Reihe von Ausreden zur Hand.
Die wenigen zur Verfügung stehenden Urkunden dienten im wesentlichen nur der Aufklärung allgemeiner Dinge, konnten jedoch über die individuelle Schuld der Angeklagten kaum Aufschluss geben.
Das Gericht war somit bei der Aufklärung der von den Angeklagten begangenen Verbrechen fast ausschliesslich auf Zeugenaussagen angewiesen. Ist ein Zeuge schon nach allgemeiner Erfahrung nicht immer ein sicheres Beweismittel, so galt dies in diesem Prozess um so mehr, weil die Zeugen über Dinge aussagen mussten, die bereits 20 Jahre zurückliegen. Hinzu kommt, dass kaum Zeugen vorhanden waren, die als neutrale Beobachter die Vorfälle im KZ Auschwitz miterlebt haben. Die Zeugen, die als ehemalige Angehörige der Waffen-SS im KL Auschwitz tätig waren, waren fast ausnahmslos in das damalige Geschehen irgendwie verstrickt. Das führte dazu, dass sie in ihren Aussagen eine auffällige Zurückhaltung zeigten, Erinnerungslücken vorschützten und sich scheuten, die Angeklagten zu belasten, offensichtlich aus der Erwägung heraus, dass sie nach belastenden Aussagen selbst von den Angeklagten belastet werden könnten. Die Aussagen dieser Zeugen waren daher - von geringen Ausnahmen abgesehen - meist wenig ergiebig.
Bei einer Reihe dieser Zeugen war es sogar offensichtlich, dass sie die Unwahrheit sagten.
Das Gericht war daher bei der Erforschung der Wahrheit im wesentlichen auf die Aussagen der ehemaligen Häftlinge angewiesen. Wenn auch ein grosser Teil dieser Zeugen ernstlich bemüht war, ihr Gedächtnis zu erforschen und die reine Wahrheit zu sagen, so musste das Gericht jedoch berücksichtigen, dass viele mögliche Fehlerquellen den Wert und den Wahrheitsgehalt dieser Zeugenaussagen in Frage stellen konnten. Fast alle Zeugen haben ihre Beobachtungen in unsäglichem Leid, von Hunger gepeinigt und unter ständiger Angst um ihr eigenes Leben gemacht. Die Namen der SS-Angehörigen waren ihnen vielfach nicht bekannt. Im Lager wurde damals über die allgemeinen Geschehnisse und über die an Einzelvorfällen beteiligten SS-Angehörigen viel gesprochen. Gerüchte breiteten sich in Windeseile unter den Häftlingen aus. Sie vergröberten und verfälschten nicht selten manche Geschehnisse. Namen von beteiligten SS-Leuten wurden verwechselt.
Für die Zeugen war es nun ausserordentlich schwer, zu unterscheiden zwischen dem, was sie selbst persönlich erlebt hatten und dem, was ihnen von anderen berichtet worden war, sei es im Lager, sei es erst später nach der Befreiung. Es bedarf keiner Frage, dass die Gefahr bestand, dass Zeugen guten Glaubens Dinge als eigene Erlebnisse darstellten, die ihnen in Wirklichkeit von anderen berichtet worden waren oder die sie nach der Befreiung in Büchern und Zeitschriften, die sich mit den Geschehnissen in Auschwitz beschäftigten und in grosser Zahl vorhanden sind, gelesen hatten. Weiter musste berücksichtigt werden, dass nach 20 Jahren Erinnerungslücken auftreten konnten, die die Zeugen unbewusst ausfüllten. Vor allem bestand hierbei die Gefahr, dass Zeugen Vorfälle, die sie im KL Auschwitz selbst erlebt hatten, guten Glaubens auf andere Personen, insbesondere die in diesem Verfahren angeklagten früheren SS-Angehörigen projizierten. Das Schwurgericht hat diese Gefahr stets im Auge behalten und bei allen Zeugenaussagen, die konkrete Belastungen eines bestimmten Angeklagten enthielten, sorgfältig geprüft, ob nicht die Möglichkeit einer Verwechslung bestünde.
Eine weitere Schwierigkeit bestand darin, dass die Zeugen - verständlicherweise - nur selten genaue Angaben über Ort und Zeitpunkt bestimmter Vorfälle machen konnten. Wenn es auch oft als eine Zumutung und Überforderung der Zeugen erschien, sie nach konkreten Einzelheiten ihrer Erlebnisse, nach dem Aussehen der an bestimmten Vorfällen beteiligten SS-Männer, nach dem Ort und der Zeit der Geschehnisse zu fragen und von ihnen eine genaue Beschreibung der Örtlichkeiten zu verlangen, so hielt dies das Schwurgericht zur Aufklärung der schweren Vorwürfe, die den Angeklagten gemacht werden, trotzdem für erforderlich, um die Gefahr von Verwechslungen und wahrheitswidrigen Angaben auszuschalten. Denn dem Gericht fehlten fast alle in einem normalen Mordprozess zur Verfügung stehenden Erkenntnismöglichkeiten, um sich ein getreues Bild des tatsächlichen Geschehens im Zeitpunkt des Mordes zu verschaffen. Es fehlten die Leichen der Opfer, Obduktionsprotokolle, Gutachten von Sachverständigen über die Ursache des Todes und die Todesstunde, es fehlten Spuren der Täter, Mordwaffen usw. Eine Überprüfung der Zeugenaussagen war nur in seltenen Fällen möglich.
Die Glaubwürdigkeit der Zeugen musste daher besonders sorgfältig geprüft werden. Wo geringste Zweifel bestanden oder die Möglichkeit von Verwechslungen nicht mit Sicherheit auszuschliessen war, hat das Gericht Aussagen von Zeugen nicht verwertet.
Von den Verteidigern wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass die Zeugen gegen bestimmte Angeklagte ein Komplott geschmiedet und sich verabredet hätten, sie - wenn auch zu Unrecht - zu belasten. Auch sei - so wurde weiter behauptet - in unzulässiger Weise auf die Zeugen eingewirkt worden, gegen bestimmte Angeklagte belastende Aussagen zu machen. Auch das musste das Schwurgericht im Auge behalten. Allerdings haben sich keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass solche Verabredungen oder Beeinflussungen erfolgt sind. Soweit bei einzelnen Zeugen der Eindruck bestand, dass sie aus einer gewissen Geltungssucht oder sonstiger Veranlagung heraus zum Erzählen phantasievoller Geschichten neigten oder - aus nicht näher zu erforschenden Gründen - bestimmte Angeklagte zu Unrecht mit konkreten Vorfällen zu belasten schienen, hat das Gericht die Aussagen insgesamt nicht verwertet.