Aus der Zeit gefallen

Am vorletzten Tag von Wien Modern erlebte das Publikum im Palais Kabelwerk einen besonderen Abend. Insgesamt acht (sic!) Kurzopern standen auf dem Programm und wurden in 2 Blöcken mit einer längeren Pause hintereinander gespielt. Das hatte zur Folge, dass sich das Zeitmaß zu einem wahrhaft wagneresken auswuchs, wenngleich jedes einzelne Stück kurz und prägnant zugleich ausgefallen war.

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Gates/Gäste war der erste Teil übertitelt und zugleich Programm für alle vier Kurzopern. Sie waren eine Produktion des sirene Operntheaters, dem Ensemble Platypus und der IGNM (Internationale Gesellschaft für Neue Musik) die in diesem Jahr die world music days in Wien abhielten.

 

Den Reigen eröffnete „Karussell“ nach einem Libretto von Radek Knapp und der Musik von Mirela Ivičević. Darin wird ein alter Mann (Johann Leutgeb) von einem jungen Paar (Theresa Dlouhy und Richard Klein) in seiner Wohnung besucht und so von den beiden infiltriert, dass am Ende nichts mehr so ist, wie es zu Beginn des Stückes war. Seine Bücher müssen einer CD weichen, die schlummernde Katze einem grellen Papagei und das betuliche braune Sakko und die dazupassende Hose werden gegen ein grelles Work-out-Kostüm ausgetauscht, das von keinem Autofahrer nachts übersehen werden könnte. So klein und so unscheinbar sich die Geschichte präsentiert, so viel Tiefgang beinhaltet sie – bis hin zur Interpretation, dass die Schöpfung ihrem Schöpfer völlig aus dem Ruder geglitten ist und der Mensch das Maß und Ziel jeder Individualität komplett aus den Augen verloren hat. Theresa Dlouhy und Richard Klein gaben ein im wahrsten Sinne des Wortes stimmiges Paar und das, obwohl noch kurz vor Beginn die Ansage erfolgte, dass Dlouhy erkrankt war und dennoch an diesem Abend sang. Wäre die Information nicht ans Publikum gelangt, kein Mensch hätte auch nur eine kleine Unpässlichkeit der Sängerin feststellen können – im Gegenteil, sie agierte extrem viril und stimmlich ohne jeden Tadel. Als herausragend ist das Bühnenbild zu bezeichnen, für das Jakob Scheid auch für die folgenden drei Stücken ein besonderes Lob ausgesprochen werden muss. Gemeinsam mit Markus Kuscher, der die Kostüme beisteuerte, gelang es den beiden, vier völlig unterschiedliche Musikdramolettchen so zu verpacken, dass sie sich optisch wie aus einem Guss präsentierten. Scheids „All-in-one-Wohnzimmer“ des alten Mannes, welches er auf so geringem Platz ausgeführt hat, dass sich Stuhl, Bücherregal, Katzenbaum, Tisch und Fenster in einem einzigen kompakten Möbel wiederfinden, hat große Klasse und könnte so in jedem Designerraum stehen, der für Wohnen auf 10m wirbt. Die Klangumsetzung von Ivičević folgte in fast durchgehend raschem Tempo unter der Berücksichtigung eines dennoch gut verständlichen Textes. Sie unterstützte, wo Atmosphäre gefragt war und spielte vor allem dort mit Wiederholungen, wo der Mensch als funktionierende Maschine dargestellt wurde. Ein grelles Opernstreiflicht, das kein Wenn und Aber zulässt und einen gelungenen Auftakt für das Kommende darstellte.

Mit Axi schuf Jaime Wolfson eine Komposition zu einem sehr humorigen und sprachlich von sich aus schon musikalischen Libretto von Antonio Fian. Darin vertreiben sich eine alte und eine junge Frau im Gemeindebau ihre Zeit damit, das Geschehen rundherum auf Überwachungskameras zu verfolgen – mit fatalen Konsequenzen. Ingrid Habermann brillierte nicht nur stimmlich, sondern auch schauspielerisch als mit ihrem Sofa verwachsene Alte, die dem Alkohol mit Freude verfallen war und deren physiognomische Ausdrucksmöglichkeiten einen überaus hohen Perfektionsgrad erreichten. Die brillante Bühnenkombination von Sofa, alter Frau und einem Turm aus Überwachungskameras, die sich Jakob Scheid dafür ausgedacht hat, war tragender Bestandteil der Inszenierung. Jaime Wolfsons Musik drängte sich nie in den Vordergrund, sondern schaffte das Kunststück, jede einzelne Aussage doppelt zu unterstreichen und verfestigte sich im letzten Auftritt von Theresa Dlouhy und Richard Klein als neu zusammengefundenes Liebespaar in einer einfachen Rumba – wozu kompliziert, wenn das Leben doch so einfach sein kann! Als rundherum gelungen kann diese Kurzoper qualifiziert werden, stellt sie sich doch als Einheit zwischen Text, Musik, Bühne und Sängerinnen und Sängern dar, an welcher man seine wahre Freude hatte. Vor allem die gelungene Spannung zwischen der optischen Auflösung des Geschehens und der dahinter liegenden, hochkomplexen Technik, auf die das Stück baut, faszinierte.

Die anschließende „Inventur“ verfolgte konsequent das bis dahin durchgehende Konzept, welches jedem kurzen Stück eine andere Urheberschaft zubilligte, die Bühnenausstattung, Regie und Sängerinnen bzw. Sänger jedoch nicht wechselte. Theresa Dlouhy und Johann Leutgeb als passionierte Leserin und passionierter Leser führten dem Publikum anhand eines überdimensionalen Buches unfreiwillig das Leben verschiedener Papierschädlinge drastisch vor Augen. Fernando Riederer schuf dazu die Komposition und Brigitta Falkner das Libretto, in welchem sich das Geschehen der kleinen Insekten zu einem wahren Lebensdrama hochschaukelt. Chelifer cancroides der Bücherskorpion und Psociden, die Bücherläuse, werden bei ihrem ungustiösen Treiben, das in einen Kampf auf Leben und Tod endet, von Dlouhy und Leutgeb beobachtet und deren Tun naturwissenschaftlich gefühllos kommentiert. Dem klaren Text ist eine ebensolche Musik zur Seite gestellt, die, wie schon in den Stücken zuvor, vor allem auch eine gute Textverständlichkeit zuließ. Kein Stück für Neurotiker, die ob der drastischen Sichtbarmachung des insektuösen Geschehens danach Schwierigkeiten mit alten Büchern oder Sofas entwickeln könnten, aber eine perfekte Umsetzung einer Opernidee, die schon als wahnwitzig bezeichnet werden darf.

Mit „Monadologie XXIV … The Stoned Guest von Bernhard Lang endete der erste Teil. Geschrieben auf die Schlussszene von Mozarts Don Giovanni, schuf der Komponist nicht nur eine andere Sicht auf das Erscheinen des steinernen Konturs, sondern auch eine wunderbare Persiflage auf die Jahrhunderte alte Operntradition an sich. Sein im Begleittext des Kataloges selbst beschriebenes kompliziertes Kompositionsprinzip erschließt sich den Hörenden durch eine endlose Reihe an Wiederholungen ganz kurzer Sequenzen, die durch ihre Kürze den Text zum großen Teil abstrakt wirken lassen. Langs Musik erinnert an jene von zerkratzten Schallplatten, die immer wieder hängen bleiben und schon dadurch ihr Alter offenbaren. Vor allem die Idee, Altes durch Neues so zu überschreiben, dass sich dadurch nicht nur die Musik selbst, sondern deren Geschichte und Aufführungspraxis zur Hinterfragung stellt, ist wunderbar.

Kristine Tornquist, die für alle Stücke die Regie schuf, steuerte auch verbindende Intermezzi bei, in welchen das pantomimische Element die tragende Rolle spielte. Ein Charly Chaplin-Verschnitt, dem die Zeit davon rinnt und der völlig unerwartet am Ende doch noch seine lustvolle Erlösung findet, sowie die Geschichte der amerikanischen Ureinwohner, die in fünf Minuten erzählt wurde, waren nicht nur vergnüglich, sondern in ihrem Kern eigentlich tiefschwarz. Eine ausgefallene Idee, die aufgrund ihres musiklosen Erscheinungsbildes keine Konkurrenz zu den gezeigten Stücken darstellte aber eine ganz eigene zusätzliche theatralische Qualität beisteuerte.


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