Etwas, an dem ich arbeitete… (aus Boschers Werkstatt)
Das war guter Stoff. Stoff, mit dem sie arbeiten konnte. Und allmählich kristallisierte sich ein Plan heraus, der ihrer dunklen Sehnsucht nach Rache gerecht wurde. Wenn er denn aufginge, würde in Aldekerk nichts mehr so sein wie zuvor. Geformt von ihrem Schmerz würde das Dorf sein, jetzt und immerdar – und was sie über die Sprösslinge erfahren hatte, ließ sich wunderbar in ihren nächsten Roman, den Roman ihres Lebens, vielleicht den letzten Roman ihres Lebens, einbauen. Die Geschichte ihrer Rache.
Lisa hatte gleich mit ihrem ersten Roman, einem Fantasy-Liebesroman, einen Treffer gelandet, die Fortsetzungen waren sogar noch erfolgreicher gewesen. Sie hatte großes Glück gehabt. Der richtige Stoff, die richtige Schreibe zur rechten Zeit. Sie hatte einen Nerv getroffen und vor allem junge Mädchen (und deren Mütter), wenn man denn den Analysen des Verlages glauben mochte, rissen ihr die Bücher aus den Händen.
Den ersten Roman hatte sie in den vielen einsamen Stunden ihrer Jugend verfasst, aber nie jemandem zu lesen gegeben, weil sie Angst vor negativen Reaktionen hatte. Aber Monate nachdem sie Aldekerk verlassen hatte, setzte sie auf ihr Manuskript all ihre Hoffnungen.
Es waren üble Zeiten gewesen, und sie hatte sich zu üblen Dingen herabgelassen, um ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen zu haben, und endlich hatte sie sich ein Herz gefasst. Die Idee war ihr gekommen, als sie sich in einem großen Buchladen die Bestseller-Regale ansah, in einige Bücher hineinlas, und dann jenes Buch, deren erste Seiten ihr am besten gefielen, unter ihrem Mantel verschwinden ließ: Das kann ich auch!, hatte sie gedacht, als sie später das geklaute Buch las – und ihr Manuskript korrigiert, vervielfältigt und an einige Verlage geschickt. Und wirklich, nach quälenden Monaten des Wartens und Hoffens hatte ein Verlag angebissen und es sicherlich nicht bereut, auch wenn die Kritiken sehr gemischt ausfielen (was glücklicherweise den Verkäufen keinen Abbruch tat).
„Es ist, als wenn Hermine aus der Harry Potter-Welt heraus mitten hinein in das Twilight-Set gestiegen wäre, weil sie gehört hatte, dass sich unter Vampiren und Werwölfen die interessanteren Jungs finden. Und so verdreht sie mit ihrer zauberhaften Art allen den Kopf, küsst mal Bela, mal Edward, besteht inmitten diverser romantischer Verwicklungen so manches gefährliche Abenteuer, kämpft auf eine Weise, die Katniss zur Ehre reichen würde, gegen dunkle Mächte und böse Monster, um endlich ihre wahre Bestimmung zu erkennen: Sie ist Aschenputtel, die inmitten der Brotkrumen, die ihr bislang das Schicksal vor die Füße warf, auf ihren Prinzen oder vielleicht auch die Prinzessin, in jedem Fall die wahre Liebe, wartet. Und so sitzt sie sehnsuchtsvoll, ihr langes Haar kämmend, im Abendrot, fest daran glaubend, dass hinter dem glühenden Horizont die Erfüllung ihrer Sehnsucht zu finden ist.“
„Eklektisch“ – dies war der gemeinsame Nenner, auf den sich vom Leseerlebnis enttäuschte und begeisterte Kritiker einigten. „Eine rührselige Pampe zusammengeklaubter Zutaten“, „Ein zauberhaftes Märchen, das alle Leserinnen und Leser in dem Moment der Enttäuschung an die Hand nimmt, wenn sie die großen Mehrteiler der letzten Jahre zu Ende gelesen haben und die liebgewonnenen Figuren im Zwielicht des endgültigen Ende loslassen müssen und jetzt nach mehr Stoff hungern.“ „Es hat alles, was wir lieben und uns nach der letzten Seite jedes Bandes zum nächsten greifen lässt. Es ist so, als hätte jemand aus allen Büchern, die wir in den letzten Jahren verschlungen haben, die Quintessenz herausgepresst, um uns dann das reine Destillat an Lesefreude einzuschenken.“
Lisa hatte ihre Fantasy-Liebesromane unter ihrem Geburtsnamen veröffentlicht. Als sie vor Jahren das Glück hatte, bei einem Verlag zu landen, war sie noch zu sehr Kind gewesen, um nicht voller Stolz ihren Namen auf dem Buchcover sehen zu wollen. Selbst ihr Lebenslauf war echt. Kurz („Geboren am Niederrhein, Schule etc., immer schon geschrieben, Umzug an den Bodensee, und endlich den Verlag gefunden, der das Potential entdeckte…“), aber echt. Allerdings hätte anhand des offiziellen Fotos von ihr auf dem Buchcover, der für sie gestalteten Homepage etc., nicht einmal ihre Mutter sie erkannt. Photoshop sei Dank. Kurz: Sie war eine Bestseller-Autorin, aber keine Person des öffentlichen Interesses. Interviews gab sie nur am Telefon oder per E-Mail (wobei es meist Verlagsmitarbeiter waren, die die Fragen an sie beantworten). Und auch wenn der Verlag zuerst mehr Engagement angemahnt hatte, war er letztlich doch froh gewesen, dass Lisa sich in der Öffentlichkeit zurückhielt. Zum einen verkauften sich ihre Bücher auch so, zum anderen hatte Lisa nach dem ersten Band und zwei Fortsetzungen die Lust am Stoff verloren und sich härteren Gefilden zugewandt, bei denen ihr das Schreiben mehr Spaß bereitete. Der Verlag beschäftigte nun diverse Autoren, um die Erfolgsreihe am Leben zu erhalten.
Unter dem Pseudonym Elisabetha, ein Name den Lisa schließlich nach Zahlung horrender Verwaltungsgebühren offiziell angenommen hatte (Elisabetha van der Kerk stand in ihrem Pass), schrieb Lisa nun Hardcore Sex- und Horrorromane, was zwar verglichen mit ihren Fantasy-Liebesromanen wenig Geld einbrachte, aber ihrer sich allmählich verändernden Persönlichkeit wesentlich gerechter wurde und für sie befriedigender war.
Aber das Geld war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr Elisabethas Sorge. Denn ihre Fantasy-Liebesromane verkauften sich wie geschnitten Brot. Die Tantiemen der ersten drei Bände, die sie selbst geschrieben hatte, und die Lizenzgebühren für die Folgebände, die sie als Urheberin der wesentlichen Figuren und Ideen ausgehandelt hatte, spülten Geld in Elisabethas Kasse. Geld, dass ihr ermöglichte, gewisse – wie sie fand notwendige – Änderungen vorzunehmen, um das Mädchen vom Dorf immer weiter hinter sich zu lassen. Sie ließ sich ihren Magen verkleinern und ihre Brüste vergrößern, eine Nasenkorrektur gehörte ebenso zum Gesamtpaket wie der Personaltrainer, der ihr jeden Tag in den Hintern trat und ihr half, ihre Pfunde abzutrainieren und Muskeln aufzubauen (und der ihr nebenher im Verlaufe der Zeit auf dem Niveau eines schwarzen Gürtels die Feinheiten asiatischer Kampfkunst beibrachte).
Zu diesem Zeitpunkt ahnten weder der Verlag noch die Leserinnen und Leser der Bestseller-Serie, was Lisa getan hatte, um zu überleben, bevor ihr erster Roman ihr zu Ruhm und Reichtum verhalf. Im Internet kursieren auf diversen Pornoseiten immer noch Videos mit ihr als „Blonde chubby teen, small tits“. Aber welcher Konsument verweilt in dieser Sphäre so lange bei den Augen, um eine gewisse Ähnlichkeit zu erkennen? Mal ganz abgesehen davon, dass man Deepthroat, Anal Creampie und weit gespreizte Beine nicht unbedingt mit einer erfolgreichen Schriftstellerin in Verbindung bringt, deren Leserschar sich vor allem aus sehnsuchtsvoll pubertierenden Mädchen und sich nach Liebe und erfüllender Romantik sehnenden Frauen mittleren Alters rekrutiert.
Doch bald würde die ganze interessierte Welt wissen, was die Lisa getan hatte. Elisabetha hatte nichts verziehen und vergessen – und sie würde an ihre Rache nicht als die Fantasy-Liebesroman-Autorin herangehen. Es würde eine Sex- und Horror-Rache werden.
Ende der Leseprobe aus dem Romanmanuskript „Der Knochenturm“ von Ralf Boscher