Im Februar 1968 findet nahe eines Banyanbaumes, der in einer ansonsten recht öden Gegend ca. zwanzig Kilometer nördlich von Pondicherry in Südindien steht, die «Grundsteinlegung» von Auroville statt. Delegationen aus 121 Ländern und 23 indischen Teilstaaten schütten zu diesem Zweck Erde aus ihrem Herkunftsland in eine Urne und unterstreichen so den internationalen Charakter der künftigen Stadt. Auch die Unesco und der indische Staat unterstützen das Projekt. Dereinst soll die Stadt etwa 50’000 EinwohnerInnen beherbergen und sich in Form eines Spiralnebels vom Zentrum aus in die Landschaft erstrecken. Das geografische Zentrum ist eben dieser Banyanbaum. Als spirituelles Zentrum der Stadt soll ein Ort der Konzentration und Meditation entstehen, eine Art Tempel, umgeben von zwölf Gärten unterschiedlichen Charakters: der Matrimandir.
Das Modell der Stadt in Form eines Spiralnebels
Doch bis dahin ist noch ein weiter Weg. Man stelle sich vor: Ein paar hundert Aussteiger, Geistessucher und mehr oder weniger Verrückte – hauptsächlich aus Europa und den Vereinigten Staaten – mit viel Idealismus und Jugendkräften scharen sich um «die Mutter», die bereits in hohem Alter steht und wenige Jahre später stirbt, und lassen sich von ihrer spirituell inspirierten Idee einer künftigen Stadt der menschlichen Einheit, des Friedens und der Harmonie begeistern. Sie setzen alles daran, den Traum Wirklichkeit werden zu lassen.
Zunächst werden Bäume gepflanzt: nicht Tausende, nicht Zehntausende, sondern über eineinhalb Millionen. Denn das Land ist verödet. Der Monsun spült beachtliche Teile der fruchtbaren Erde ins nahe Meer und hinterlässt tiefe Canyons. Kommt hinzu, dass das Regenwasser innert Kürze abgeflossen ist und so seine lebensspendende Kraft gar nicht erst entfalten kann. Es werden deshalb Rückhaltebecken gebaut, Dämme und Kanäle. All dies geschieht mit einfachsten Mitteln – das meiste ist Handarbeit – und aus einer unmittelbaren Notwendigkeit heraus. Später werden diese Erfahrungen indienweit in einige Wiederaufforstungsprogramme einfliessen.
So sah das Gebiet von Auroville zur Zeit seiner Gründung aus.
… Und so sieht es heute aus.
Auch der Bau des Matrimandirs wird bald an Angriff genommen. Allein der Aushub der Grube für das Fundament dauert drei Jahre … Dieser Bau entspricht nicht einer äusseren, sondern einer inneren Notwendigkeit – wie überhaupt neben der harten alltäglichen Arbeit der Urbarmachung und Besiedlung des Landstriches die innere Arbeit, der integrale Yoga des Sri Aurobindo, von Anfang an ein hohes Gewicht erhält.
Wenn ich heute, 45 Jahre nach dessen Gründung, Auroville – als Gast nur und mit loyaler, aber kritischer Distanz – betrachte, so entsteht in mir hohe Achtung vor dem Fortschritt dieses Experiments. Natürlich: Viele Ideale sind (noch) nicht erreicht, und Widersprüche und Unzulänglichkeiten gibt es zuhauf. (In einem späteren Beitrag komme ich näher darauf zu sprechen.) Doch ich habe den Eindruck, dass Auroville auf gutem Weg ist und seinen hoch gesteckten Zielen Schritt für Schritt näher kommt. Auch erlebe ich in vielen der Menschen, die ich bisher kennen gelernt habe, ein ehrliches, redliches Streben nach Zielen jenseits des Horizontes, wie ihn das gegenwärtige Gesellschaftsmodell vorgibt.
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