Augenblickmal! 2013 – Das Festival des Theaters für junges Publikum

Von Theatertogo @MarieGolueke

Theater an der Parkaue/Grips Theater

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Im Rahmen des Augenblickmal!-Festivals kommen viele nationale und internationale Inszenierungen im Bereich Kinder und Jugendtheater nach Berlin. Fast alle Inszenierungen wurden schon mit Preisen ausgezeichnet und werden nun in Berlin einem Fachpublikum, den Kindern, Studierenden und der Presse präsentiert.

Alice im Wunderland vom Jungen Schauspielhaus Hamburg in der Regie und Bearbeitung von Barbara Brück. Wer kennt sie nicht, die Geschichte der kleinen, verträumten Alice die alle möglichen Abenteuer im Wunderland erlebt und dabei auf die skurrilsten Gestalten stößt. Angelina Häntsch spielt Alice und ist dabei so herrlich naiv und verspielt aber gleichzeitig klug und fragend, dass man als Zuschauer selber in ihr Wunderland gezogen wird. Eine Reise durch die Phantasie mit vielen Licht-und Musikeffekten, wunderbar passenden Kostümen und einer Menge Komik. Die Schauspieler schlüpfen in die unterschiedlichen Rollen der Wunderlandbewohner und schaffen es jeder einzelnen Figur ihren individuellen Charakter zu geben.

Die Bühne kann sich durch die individuelle Bespielung der Schauspieler und die Vielseitigkeit der Requisiten in jedem Raum verwandeln, den man sich vorstellen kann. Es wird viel mit Klängen und Geräuschen gearbeitet und mit Theatereffekten, wobei diese nie versteckt sondern offen sichtbar gemacht werden, zum Beispiel wenn Alice wächst und schrumpft. Eine wunderbare Szene, die vielleicht auch deshalb so gut funktioniert weil jeder von uns die Bilder eines Filmes, Buches oder einen Zeichentrickfilms im Kopf hat und man ja schon weiß, wie die Geschichte ausgeht. So kann man sich auf die Bilder einlassen und seiner Phantasie freien Lauf lassen. Die Darstellung der einzelnen Charaktere durch opulente Kostüme ist genau richtig, und auch die vielen Tanzeinlagen passen perfekt. Ein bisschen schade ist es schon, dass bei 1 1/2 Stunden die vielen Abenteuer der Alice nur relativ kurz angeschnitten werden können und manche skurrile Figuren, wie der Hutmacher, nicht  viel Raum haben sich zu entfalten.

Das Publikum amüsiert sich trotzdem köstlich. Eine wunderbare Möglichkeit für Kinder und Erwachsene ein paar Stunden in diese bunte Welt einzutauchen.

Radau vom Jungen Staatstheater Berlin. Ein schon fast vergessenes Hörspiel von Walter Benjamin ist die Inspiration für diese Inszenierung. Kasperl wird von seiner Frau frühmorgens zum Markt geschickt einen Fisch zu kaufen und stößt dabei im Nebel mit Maulschmidt zusammen, der ihn als Rundfunksprecher engagieren will. Als Kasperls aber im Rundfunk über seinen alten Freund Seppel lästert, wird Maulschmidt wütend und es beginnt eine rasante Verfolgungsjagd durch einen Jahrmarkt, einen Zoo usw. bis Kasperl am Ende in einem Taxi gerammt wird und sich Verletzungen zuzieht. Der Rundfunk hat hinter seinem Rücken die ganze Verfolgungsjagd aufgenommen.Johannes Hendrik Langer spielt den Kasperl und ist für mich eine Neuentdeckung. Er spielt mit so viel Witz, Humor und Spaß, dass einem das Herz aufgeht. Aber auch die anderen stehen Langer in nichts nach. Es wird viel mit Musik und Geräuschen gearbeitet, da es ja nun eben mal ein Hörspiel ist und sich Kasperl ja auch die ganze Zeit auf Sendung befindet. Rasante Kostümwechsel und Slapstick-Nummern führen durch die Hetzjagd und Anton Bermann tanzt fast mit seinem Klavier, wenn er in die Tasten haut. Aber das Stück hat auch ruhige Momente,  zum Beispiel wenn Kasperl zu einem Wahrsager geht und man den Atem anhält, weil man wissen will was hinter der Tür ist.Hier werden viele kleinen Situationen und Abendteuer beschrieben, die am Ende wieder in die Rahmenhandlung eingefädelt werden. Man könnte meinen, dass man ja auch einfach die Augen schließen könnte, da es ja ein Hörspiel ist aber dann würde einem ja die grandiose Darstellung der Schauspieler entgehen.Spiel, Spaß und Spannung steckt in dieser Inszenierung und das Hörspiel von Walter Benjamin hat es verdient, dass man es mal wieder aus der Kramkiste holt.

Schwester vom Theater Marabu in Bonn. Ein 4 Jahre alter Junge schleicht nachts zum Fjord, da er nicht schlafen kann. Dort angekommen legt er sich ins gut riechende Gras und schläft ein. Als seine Mutter ihn findet, gibt es mächtig Ärger. Er versteht nicht was er falsch gemacht hat. Als er mit seiner kleinen Schwester die Natur erkunden will, wird er von zwei alten Leuten in Gewahrsam genommen und den Eltern übergeben, die sperren ihn im Haus ein, während seine Schwester draußen Eis essen darf. Vor Wut schlägt er die Scheibe ein und seine Hand blutet. Die Welt eines Vierjährigen, für den die Logik der Erwachsenen unverständlich erscheint. Als die Alten Leute zu den Eltern kommen um ihm gute Besserung zu wünschen, wegen seiner Hand, lachen sie über sein Ungeschick und er fühlt sich einsam und allein, nur seine Schwester ist noch da.

Behutsam wird hier die Welt eines Vierjährigen gezeigt und sie wird ernst genommen. Seine Ängste, Wünsche und Sorgen stehen im Mittelpunkt und die Welt der Erwachsenen kommt einem skurril vor. Ständiger Wechsel zwischen narrativem Erzählen und darstellendem Spiel. Hier wird nicht versucht irgendwelche Illusionen aufzubauen, sondern mit wenigen Requisiten in den Köpfen der Zuschauer die Welt des kleinen Jungen erschaffen. Wunderbar spielen die zwei Darsteller und man merkt das auch sie die Welt die sie darstellen ernst nehmen. Mit einer Livekamera werden hier simple Effekte erzeugt und es braucht nur einen Grasbüschel um die Atmosphäre der Wiese zu erschaffen in der der kleine Junge liegt und schläft.

Eine leise Inszenierung mit großer Wirkung, die jedes Kind und jeder Erwachsene sehen sollte.

Der Junge mit dem Koffer vom Theater für junges Publikum in Mannheim in Kooperation mit dem Ranga Shankara Theater in Bangalore. Politisches Theater für junges Publikum. Der kleine Naz wird von seinen Eltern auf die beschwerliche Reise von Indien bis nach London geschickt, nachdem ihr Dorf niedergebrannt wurde und sie im Flüchtlingslager gelandet sind. Seine Schwester lebt und arbeitet in London und sandte ihnen eine Briefkarte auf der steht, dass hier alles besser sei. Mit dieser Hoffnung geben die Eltern alles was sie haben und schicken Naz auch dorthin. Er durchlebt viele Abendteuer, genau wie Sindbad der Seefahrer. Naz beruft sich immer wieder auf seine Abenteuer um seinen Mut nicht zu verlieren. Er lernt Krysia kenne, die ihn eine Weile begleitet. Als Naz in London bei seiner Schwester ankommt, nach Jahren, muss er erkennen dass sie gelogen hat und es in London genauso viel Elend gibt wie in Indien.

Grandioses Erzähltheater für Kinder und Erwachsene. Berührend wird hier die Geschichte vom kleinen Naz erzählt, die trotzdem nie aufgesetzt oder Unwahr erscheint. Die Schauspieler agieren in Englisch, ein weiterer Schauspieler erzählt die Geschichte teilweise in Deutsch nach und gibt Kommentare. Es ist Naz der Rückblickend seine eigene Geschichte erzählt. Die Geschichte wird mit ihm verzahnt und wieder aufgebrochen. Mit dieser Draufsicht schafft man eine gewisse Distanz zu dem Geschehenen und kann es wirklich als Geschichte stehen lassen. Die Narrativität in diesem Stück ist dadurch sehr hoch und deswegen auch für ein junges Publikum zu verstehen.

Trotz seiner berührenden langen Reise, verliert Naz nie die Hoffnung und seinen Humor und so driftet auch das Stück nicht in dramatische Melancholie ab. Man ist gespannt, gerührt, erheitert und betroffen. Die Schauspieler wechseln überzeugend zwischen ihren Figuren hin und her. Die Musik und Geräusche tun ihr Übriges um den Abend abzurunden. Es stimmt einfach alles.

9 Leben vom Jungen Schauspielensemble Stuttgart. Ein Tanzprojekt mit Jugendlichen. Es geht um 9 Jungs und ihre Mutter, wie sie zusammen leben. Der Vater ist nicht mehr da, man weiß nicht wohin. Es wird auch nie erzählt. Ich weiß nicht genau, was ich davon halten soll. Einzeln werden die Geschichten der Jungs erzählt und wieder mit der der Familie verwoben. Jeder bekommt seinen großen Auftritt. Es gibt Gruppenchoreographien. Die Essenz des ganzen erschließt sich mir nicht, dafür fehlt mir die Tiefgründigkeit.

Weißbrotmusik ein Abschlussprojekt eines Regiestudenten der UDK in Kooperation mit dem Theater Strahl. Es geht um Integration, Toleranz und soziales Verhalten, ganz grob ausgedrückt. Das Stück basiert auf den Anschlag auf einen Rentner in der Münchner U-Bahn 2007 von zwei Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Aron und Sedat sind gute Freunde und Nurit, Sedats Freundin, ist von ihm schwanger. Das Stück dreht sich darum, wann man ein Deutscher ist und wie man sich in einem Land fühlt, indem man  nie wirklich als Staatsbürger ernst genommen wird, selbst wenn man dort geboren ist. Was erst wie ein lustiger Theaterabend beginnt, wechselt schnell zu einem unkontrollierten Wutausbruch seitens der Figuren.

Ich sitze in der 1. Reihe und 2 Plätze neben mir ein alter Mann, der nach den ersten Sätzen aufspringt und die Schauspieler beschimpft. Die Frau neben ihm beruhigt ihn. Ich denke mir: Warum schmeißt ihn keiner raus? Nagut, dann eben nicht. Der alte Mann lässt immer wieder Kommentare ab, zum Beispiel als die Schauspieler auf der Bühne rauchen und dann eskaliert die Situation auf einmal. Sedat springt von der Bühne ins Publikum und fängt an brutal auf den alten Mann einzuschlagen. Mir stockt der Atem. Er wird hinausgeprügelt und wieder hereingebracht mit einer blutenden Wunde am Kopf. Mein Herz rast und mehrere Leute rennen aus dem Theatersaal. Es ist inszeniert aber so echt, dass es auch real sein könnte. Der alte Mann setzt sich an die Bühnenkante und erzählt ein paar Sätze, doch keiner hört mehr wirklich zu.

Zum Schluss folgt ein Monolog von Nurit, der auch in dem Schockzustand der Zuschauer verschwindet. Im anschließenden Publikumsgespräch geht es nur über diese 5 Minuten des Übergriffs, wobei die ganze Inszenierung fast in den Hintergrund rückt. Ein sehenswertes Stück mit fabelhaften Schauspielern, das bis an die Grenzen geht und den Zuschauer auf eine harte Probe stellt. Unbedgingt anschauen!

Weiße Magie vom MOKS Theater in Bremen. Gotta Depri, ein afrikanischer Tänzer und drei deutsche Schauspieler/Innen. Hier wird die Weiße Magie der Schwarzen gegenübergestellt. Technik wird verhandelt und mit Hilfe des Publikums Gottas Französisch übersetzt. Bei vielen Sachen weiß man gar nicht genau, was das soll. Es wird schnell Oberflächlich und nicht wirklich in die Tiefe gegangen. Die Europäer werden hier als mehr oder weniger schlecht hingestellt und die Schwarzen als die, die auf alles die richtige Antwort haben. Ein bisschen differenzierter muss man es dann schon sehen. Eine Schauspielerin war eigentlich fast überflüssig, da sie nie etwas gesagt hat und die Kostüme waren mehr plakativ als gut durchdacht. Facebook, das Internet und die Technik wird hier als wertlos und überflüssig dargestellt und die schwarzen Hexer als wahre Meister. Diese Inszenierung ist zu oberflächlich gedacht um den wirklichen Kern des Austausches zwischen Afrika und Europa zu erfassen. Schade eigentlich.

Das Augenblickmal-Festival 2013. Hier wurden die besten Kinder und Jugendstücke der letzten 2 Jahre aus Deutschland gezeigt. Ich muss sagen, die wahren Perlen lagen für mich fast ausschließlich bei den Kinderstücken. Vorher wusste ich gar nichts davon und nun hat sich mir eine völlig neue Welt eröffnet. Vor allem bei der Bustour durch die Freie Szene Berlin machten wir Halt am Theater Ohne Namen. Mit eines der wenigen Theater, die für die ganz kleinen da sind. Kinder ab 2 Jahren können dort in die Inszenierungen gehen. Wir schauten eine Inszenierung in der eine Raupe zum Schmetterling wird. Es ist wahnsinnig schön gemacht und ein Tipp für alle, die auch schon ihre Kleinsten fürs Theater begeistern möchten.

Das Festival hat auf jeden Fall Schluss gemacht mit meinem bisherigen Bild vom Kinder und Jugendtheater. Man kann hier tolle Sachen entdecken auch wenn man schon `groß` ist.