Meine Eltern sind wundervolle, phantastische Menschen. Die mir nicht nur eine wunderschöne Kindheit beschert haben, sondern mich auch liebevoll, aber streng erzogen haben. Zu einem halbwegs guten Menschen, möchte ich meinen.
Für diese Erziehung sollte ich dankbar sein. Aber ich bin es nicht.
Es gibt Regeln im Leben, die so sind, wie sie sind. Einen Teil schreibt uns die Natur selbst vor, einen anderen die Gesellschaft in der wir leben. Die Regeln, nach denen ich erzogen worden bin, haben mich allerdings in meine eigene kleine Welt geführt. Und da bin ich jetzt drin. Und gleichzeitig gestrandet in der Außenwelt.
“Du fährst bei keinem mit, der zu schnell fährt!”, wurde ich früher gewarnt. Und habe mich daran gehalten.
“Sei nicht so ein Spießer”, heißt es heute, wenn ich als Mitfahrer um eine angemessene Fahrweise bitte. Und: “Wir sind doch hier nicht im Kindergarten!”
Höflichkeit und Benehmen wurden mir eingetrichtert. Nur was ist mit all den anderen Leuten los?
Wenn ich wo eingeladen bin, sage ich zu. Oder ab. nach einer Zusage einfach so nicht zu erscheinen, ist für mich keine Option.
Notfälle sind außen vor, klare Sache. Und auch sonst kann man im Alltag mal etwas vergessen.
Aber wenn ich denjenigen darauf anspreche, erwarte ich: Eine Bitte um Entschuldigung und zumindest einen Hauch von Scham.
Ich erwarte NICHT, angepamt zu werden, ich sollte mich wegen so einer Kleinigkeit nicht aufregen, nur, weil man einmal nicht da gewesen sei. Ich erwarte NICHT, von demjenigen, der das Versäumnis auf seiner Seite hat, selbst ins Unrecht gesetzt zu werden.
Ich erwarte überall und von jedem ein Mindestmaß an Höflichkeit und Respekt. Ein Chef oder direkter Vorgesetzter, mit dem ich absolut nicht zurechtkomme? Für mich ein No-Go! Da muss sich doch was machen lassen, man kann doch über alles reden? Und was sollte auch einer gegen mich haben? Das kann doch alles nur ein Mißverständnis gewesen sein!
Nein, ich will NICHT mit jedermann befreundet sein. Ausnahmen gibt es immer; zB mit Nazis will ich nichts zu tun haben und zu denen gegenüber will ich auch nicht freundlich und respektvoll sein. Die haben ihr Recht darauf verwirkt.
Ich bin auch nicht opportunistisch, halte nicht mit meiner Meinung hinterm Berg, um zu gefallen. Aber ich wurde erzogen, taktvoll zu sein. Und nicht jeden Gedanken laut auszusprechen. Keinen Schaden anzurichten. Konstruktiv zu kritisieren.
All das gelingt mir nicht immer, klar. Ich bin schließlich auch nur ein Mensch und manchmal genauso unfair und fies wie andere auch. Das tut mir leid.
Und dann bitte ich um Entschuldigung, denn auch so bin ich erzogen worden: Für Dinge gradezustehen, die ich verbockt habe.
Manchmal ist es leider zu spät, nicht jede Entschuldigung wird gewährt. Das sind Fehler, aus denen ich aufs Schmerzhafteste lerne.
Nur was lerne ich daraus?
Noch vorsichtiger zu sein? Oder gleichgültiger zu werden?
Ich wurde in dem Glauben erzogen, dass man immer über alles sprechen kann. Dass Missverständnisse nunmal in unserer Natur liegen. Aber auch, dass man sie klären kann.
Daher bemühe ich mich bei ernsten Anliegen um eine klare Sprache: “Bitte nicht, das tut mir weh, wenn Du das sagst!” – geht es noch deutlicher?
Es kostet mich viel Kraft, so offen zu sein. Meine Schwächen zu zeigen.
Und der süße Lohn? Den gibt`s vielleicht im Nimmerland, aber gewiss nicht hier.
Da kümmert es keinen, da wird einfach weiter draufgehauen. Als ob ich etwas vortäuschen würde, wenn ich sage: “Das macht mir Kummer!”
Mir wurde beigebracht, die Fehler nicht immer nur bei anderen zu suchen. Sondern auch bei mir selbst. Und wenn es Streit gab, sitze ich da und zerbreche mir den Kopf: Was habe ich falsch gemacht? Wo habe ich einen Fehler begangen? Wie habe ich den anderen verletzt?
Und bin traurig und verwirrt. Sehne mich danach, mich wieder zu vertragen.
Und der Andere?
Der macht sich überhaupt keinen Kopf darum. Ist sauer auf mich oder eingeschnappt, aber es belastet ihn nicht weiter: Schulterzucken, das Leben geht weiter.
“Du darfst solche Sachen nicht immer so ernst nehmen”, rät man mir.
“Nimm Dir das doch nicht so zu Herzen, er wird sich schon wieder einkriegen!”m heißt es.
Oder auch: “Mensch, jetzt hör auf, rumzuheulen, werd endlich mal erwachsen!”
Ist es das? Bedeutet das, erwachsen zu sein? Dass man Streit und Uneinigkeit gleichmütig gegenüber steht? Dass man Schmerz nicht mehr oder kaum an sich heranlässt? Dass man Dinge, die einen ärgern oder bedrücken, nicht mehr ausspricht, sondern höchstens noch mit anderen dann darüber lästert? Ist es das, was die Welt von mir will?
Nicht mehr zu versuchen, Dinge zu klären, mich mit Leuten zu vertragen, dass ich Dinge nicht hinnehmen, sondern einfach gar nicht mehr ernst nehmen soll? Dass mir alle Leute außerhalb meines engsten Kreises scheißegal sind? Sind das die Regeln, nach der die Welt für die Menschen um mich herum funktioniert?
Ich habe noch viele andere Dinge von meinen Eltern beigebracht bekommen.
Das Familie und Freunde das Wichtigste auf der Welt sind. Dass es nicht um Geld geht, sondern darum, glücklich zu sein.
Dass man mit allem Geld der Welt weder Liebe, noch Freundschaft oder Zeit kaufen kann.
Dass man in einer Familie zusammenhält. Dass man auch unter Freunden füreinander da ist.
Dass Frieden und Freiheit der größte Luxus sind.
Dass ein Lächeln oder ein nettes Wort um die Welt gehen können. Dass man (auch freundschaftliche- ) Beziehungen pflegen muss.
Dass man manchmal seinen Stolz herunterschlucken muss. Aber dass man sich auch nie verbiegen soll.
Dass man niemandem die Schuld für etwas in die Schuhe schieben soll, das man selbst verbockt hat.
Dass man seinen Mitmenschen helfen soll, wenn man kann. Und nicht zu stolz sein soll, selbst um Hilfe zu bitten.
Dass man sich an die Regeln halten soll; dass man Regeln hinterfragen soll.
Dass man, wenn man sich Mühe gibt, etwas erreichen kann.
Dass man ehrlich und anständig sein soll.
Und jeden so behandeln soll, wie man selbst gern behandelt werden möchte.
Und noch viel viel mehr.
So ist das hier in meiner kleinen Welt.
Und der Rest der Welt sieht zu und lacht sich kaputt.
Noch.
Denn langsam habe ich die Schnauze sowas von dermaßen gestrichen voll, ständig draufzufallen und ständig von so vielen Seiten nur Spott zu ernten. Da wird Freundlichkeit als Schwäche ausgelegt, Zufriedenheit als mangelnder Ehrgeiz, Höflichkeit wird zur devoten Geste und Offenheit wird ausgenutzt oder ignoriert.
Noch ist meine kleine Welt anders, noch habe ich nicht kapituliert.
Aber wer weiß? Vielleicht wache ich ja in baldiger Zukunft auf und finde mich in der wirklichen Welt wieder. Und spiele dann nach deren Regeln.
Dann muss ich mir zumindest nicht mehr so verdammt viel Mühe geben. Mich nicht mehr hinterfragen, wäre nicht mehr so oft traurig. Hätte ein größeres Ego …
Worauf warte ich eigentlich noch?
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