Aufruf zur Ehrlichkeit oder Wenn Schildkröten vögeln

Von Juliane

Fast täglich entdecke ich neuen Handlungsbedarf, um unsere Gesellschaft vor selbst herbeigeführten Katastrophen zu bewahren. Wollte ich all dem nachzukommen, was im Argen liegt, ich müsste noch öfter mein Berufsfeld wechseln, als ich es sowieso schon tue. Auf meiner neusten Visitenkarte stände: Hobby-Pädagogin. Wobei ich mich weniger auf die Kinder als viel mehr auf die Erwachsenenerziehung spezialisieren möchte. Echt mal liebe Eltern, hört auf den Blagen so einen Scheiß zu erzählen!

Mir ist bewusst, dass man die Kleinen, denen als Verkörperungen von Jugend symbolisch Unschuld und Naivität zugeschrieben werden, so lange vor der Realität der Welt behüten möchte, aber euer Bullshit ist dafür kein Mittel. So hörte ich erst gestern nahe eines Pferdestalles folgenden Dialog:

Kind: „Ihhh, hier stinkt es!“

Mutter: „Ja, das ist weil die Pferde sich nicht den Popo abwischen.“

Was soll aus diesem Kind mal werden? Wird es später einmal Toilettenpapier für Pferde erfinden und Huftieren Daumen an züchten?

Auffällig ist, dass Mütter und Väter dann beginnen zu lügen, wenn es in die niederen Regionen der Anatomie geht. Nur wenige Tage vor dem Pferde-Erlebnis, stolperte ich in einen Schildkrötenzoo inkl. Schildkrötenzüchtungsinstitut. Diese Pflicht nahmen die Tiere sehr ernst. Ich hatte einen langweiligen Spaziergang erwartet mit gelegentlichem Betrachten unterschiedlicher Exemplare, die in der Sonne liegen. Meine Vorurteile gegenüber Schildkröten wurden den Tieren nicht gerecht. Tatsächlich wurde in fast jedem der hübsch gestalteten Gehege aufs Heftigste gepoppt. Und das nicht immer nur zu zweit. Und das nicht leise! So eine vögelnde Schildkröte möchte man nicht zum Nachbarn haben!

Diesem animalischen Treiben sah nun nicht nur ich zu, sondern auch eine Kleinfamilie mit einem Mädchen um die 7-8 Jahre. Während die junge Dame dem Spektakel kritisch zusah und in ihrem Gehirn nach möglichen Erklärungen für das Verhalten der Tiere suchte, erläuterte die Mutter bereits: „Die oberen Schildkröte ist so müde und will sich von der unteren tragen lassen. Deswegen stöhnen die auch so.“ Als ob, liebe Mutter. Der Vater hielt das Geschehen derweil begeistert mit der Kamera fest.

Auf die zu den Geräuschen gehörenden Stoßbewegungen gingen sie nicht ein, aber am nächsten Gehege hörte ich sie ihre Lüge wiederholen: „Guck mal, die sind auch gaaaanz müde.“ Die Schildkröten wurden aber überhaupt nicht müde. Kaum fertig mit einer Partnerin sprangen sie prompt auf die nächste, auch zu mehreren. Beeindruckende Ausdauer für jemanden, der nur ein paar Blättchen Salat zum Frühstück hatte.

Vielleicht reagiere ich auch so erzürnt auf diese Märchen, weil ich mich erinnere, wie ich selbst als Kind meiner Mutter auf den Leim ging. Auch dies war eine Pferdegeschichte. Wir standen am Zaun einer Koppel und sahen einem Hengst zu, den unsere Anwesenheit oder einfach nur seine eigene Phantasie ganz offensichtlich erregte. Statt zu erklären, dass die körperliche Erweiterung, die da unter dem Bauch des Pferdes sichtbar wurde, ein Indikator für das Geschlecht des Pferdes war, log meine Mama: „Das Pferd bekommt grade ein Baby.“ Wäre ein anderes weibliches Exemplar des Tieres anwesend gewesen, hätte das langfristig so passieren können. Auch dann wäre aber die Formulierung „machen ein Baby“ besser gewesen. So aber dachte ich meine Kindheit über Pferdebabys sehen aus wie Penisse. Man sollte Kindern nicht so einen Scheiß erzählen. Und wenn man es schon nicht aussprechen kann, dann kann man es wenigstens zugeben. Was soll denn sonst aus diesen Menschen werden? Die Schildkröten waren nicht müde! Aber sie hätten gerne eine Zigarette für danach gehabt!