Aufmerksamkeit: ein Puzzle unterschiedlichster Teilleistungen unseres Gehirns

Aus: Spektrum der Wissenschaft, Februar 2012
Bei Heranwachsenden mit ADHS oder Legasthenie sind oft ganz verschiedene Aspekte der Aufmerksamkeit gestört. Kinderärzte und Therapeuten müssen sie daher individuell behandeln.

Was wir alltagssprachlich als Aufmerksamkeit bezeichnen, setzt sich in Wirklichkeit aus mehreren voneinander unabhängigen Einzelleistungen unseres Gehirns zusammen, schreibt der Neuropsychologe Reinhard Werth von der Ludwig-Maximilians-Universität München in der Februarausgabe von "Spektrum der Wissenschaft". Entsprechend unterschiedlich können auch mögliche Einbußen ausfallen, denn jede dieser Komponenten kann für sich gestört sein, während andere intakt bleiben. Bis heute ist diese Erkenntnis allerdings weder in die gängigen diagnostischen Handbücher psychischer Störungen, das DSM IV und den ICD 10, noch in die medizinischen Praxis eingegangen.
Eine zentrale dieser Einzelleistungen ist die Steuerung des Aufmerksamkeitsfelds: Wenn etwa ein Autofahrer seine Aufmerksamkeit vor allem in Fahrtrichtung richtet, übersieht er leicht Informationen am Gesichtsfeldrand wie ein Stoppschild oder ein sich näherndes anderes Fahrzeug. Andere Fehlsteuerungen des Aufmerksamkeitsfelds treten bei manchen Kindern und Jugendlichen auf: Der Scheinwerferkegel ihres Bewusstseins weitet sich nicht bei Bedarf aus, weshalb die Betroffenen Objekte übersehen, etwa im Schulunterricht. Sie wirken dann oft schwerfällig und reaktionsträge. Umgekehrt ist das Aufmerksamkeitsfeld bei vielen Kindern mit einem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (AD(H)S) dauernd weit gestellt. Sie registrieren dadurch fortwährend völlig irrelevante Objekte der Umwelt, lassen sich also beispielsweise in der Schule leicht ablenken.
Andere Kinder zeigen zu kurze Fixationszeiten: Sie blicken dann nur flüchtig zu Objekten hin und wenden den Blick bereits wieder von ihnen ab, bevor sie sie richtig erkannt haben. Auf zu kurzen Fixationszeiten beruhen häufig auch Lesestörungen. Ein Kind, das nur einen raschen Blick auf die Tafel wirft, wird ein dort aufgezeichnetes Schaubild nicht erfassen, eine dort ausgeführte Rechenaufgabe nicht verstehen, einen geschriebenen Text nicht lesen können.
Bei anderen Fällen von Legasthenie erfordern bestimmte, fürs Lesen notwendige Hirnleistungen zu viel Aufmerksamkeit, sodass für den Inhalt des Gelesenen nichts mehr übrig bleibt. Denn Aufmerksamkeit ist ein begrenztes Gut: Je mehr davon eine Tätigkeit beansprucht, desto weniger kann man gleichzeitig einer anderen widmen. Dies wirkt sich etwa bei so genannten eingekleideten (sprachlich formulierten) Mathematikaufgaben aus, wobei dann oft die falsche Diagnose einer Rechenstörung gestellt wird.
Ärzte und Therapeuten sollten also nicht pauschal von einer "Aufmerksamkeitsstörung" sprechen, und entsprechend gibt es auch keine allgemeingültige "Aufmerksamkeitstherapie". Stattdessen gilt es, Patienten auf die verschiedenen Einzelleistungen hin zu untersuchen und die Behandlung an der jeweiligen speziellen Störung auszurichten.

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