Ein Holzfäller geht unermüdlich seiner Arbeit nach. An den Abenden ist er so erschöpft, dass er weder Energie noch Zeit hat, um sein Arbeitsmaterial zu schärfen. So geht er also Tag für Tag mit seiner stumpfen Säge in den Wald, bis ihm die Augen geöffnet werden.
Als Podcast anhören
Dieser Beitrag ist als Folge unter dem Podcast "Aufgewacht" erschienen. Du kannst ihn dir hier durchlesen, anhören oder auf deinem bevorzugten Gerät kostenlos abonnieren, um keine zukünftigen Folgen mehr zu verpassen.
Ein weiser Mann machte es sich zur Gewohnheit, jeden Nachmittag durch den Wald am Rande seines Dorfes zu spazieren. Als er an diesem Tag gedankenverloren auf eine Lichtung zulief, sah er einen Holzfäller, der schweißgebadet seiner Arbeit nachging.
Der Weise, der trotz des hohen Alters für seine klugen Streiche bekannt war, begann ein Gespräch mit dem Holzfäller. „Wie lange arbeitest du hier schon", fragte er neugierig. „Seit dem Sonnenaufgang. Es ist eine anstrengende Arbeit, aber jemand muss sie ja machen", antwortete er, völlig außer Atem.
Der alte Mann überlegte kurz, bevor er den Holzfäller herausforderte: „Was hältst du von einem kleinen Wettstreit?". „Was, mit dir? Du könntest mein Großvater sein", gab der Holzfäller respektlos zurück.
Unberührt davon antwortete der Alte: „Morgen zum Sonnenaufgang komme ich zu dieser Lichtung zurück. Ich werde meine Säge mitbringen und dann sehen wir, wer von uns an einem Tag mehr Bäume fällt." Der verwunderte Holzfäller, der einer kleinen Abwechslung nicht abgeneigt war, willigte ein.
Gesagt, getan. Am kommenden Morgen trafen sich die Wettstreiter erneut, beide ausgestattet mit einer ähnlichen Säge. Wer bis zum Sonnenuntergang die meisten Bäume fällt, würde als Sieger hervorgehen.
Der Holzfäller machte sich sofort an die Arbeit. Unermüdlich brachte er einen Baum nach dem anderen zum Fallen. Als seine Kräfte zur Mittagszeit schwanden, beobachtete er den Alten. Der saß seelenruhig im Schatten und spielte gemütlich mit seiner Säge. Er hatte noch nicht einen einzigen Baum gefällt.
Sich seines Sieges sicher, machte sich der Holzfäller wieder an die Arbeit. Mit jedem Baum wurde die Säge stumpfer, aber davon ließ er sich nicht abhalten. Als am Abend die Dämmerung einsetzte, ging er völlig erschöpft zu dem Alten. Dort stellte er erschrocken fest, dass dieser am Nachmittag mehr als doppelt so viele Bäume gefällt hatte, wie er selbst.
„Wie ist das möglich?", fragte der Holzfäller, „Du hast doch den ganzen Vormittag im Schatten gesessen und dich ausgeruht." Der alte Mann hielt seine Säge in die Lüfte und erwiderte: „Lieber Holzfäller, während du mit einem stumpfen Werkzeug zugange warst, habe ich meine Säge so gut geschärft, dass sie durch das Holz schnitt wie durch Butter."
Die stumpfe Säge
Steve Corvey nutzt die Analogie der stumpfen Säge in seinem Buch „Die 7 Wege zur Effektivität". Er beschreibt einen Holzfäller, der mit jedem Tag weniger produktiv wird, da sein Werkzeug abstumpft. Anstatt sein Leben durch das Schärfen der Säge zu erleichtern, konzentriert er sich nur auf die Tätigkeit, für die er bezahlt wird.
Wenn der Holzfäller sich Pausen gegönnt, seine Säge hin und wieder geschärft und dazu noch neue Sägetechniken erlernt hätte, wäre er nicht nur deutlich produktiver gewesen, sondern hätte sich auch weniger anstrengen müssen.
Rückblickend ging es mir oft so. Auf der Arbeit habe ich mich in Aufgaben so verloren, dass ich das große Ganze nicht mehr sehen konnte. Wie ein Pferd mit Scheuklappen bin ich dann immer schneller in die falsche Richtung gelaufen, anstatt mal kurz anzuhalten und mich umzudrehen.
Die Säge im Alltag zu schärfen bedeutet, die Routinen zu unterbrechen. Ruhezeiten, neue Impulse oder neue Umgebungen sorgen dafür, dass wir Herausforderungen aus einer anderen Perspektive sehen. Dann fällt es uns viel leichter, in Lösungen, anstatt in Problemen zu denken.
Ein schönes buddhistisches Sprichwort sagt: „Du solltest jeden Tag 15 Minuten meditieren. Wenn du keine Zeit dafür hast, dann solltest du dir eine Stunde nehmen."
Wie oft sagst du, dass du jetzt gerade keine Zeit hast? Die Zeit dafür, dich weiterzubilden, Pausen einzulegen, Sport zu machen oder dich mit deinen Liebsten zu treffen? Wenn die Zeit für so wichtige Dinge wie die eigene Gesundheit und Beziehungen zu knapp ist, ist das ein gutes Anzeichen dafür, mal wieder die Säge zu schärfen.
Die Schärfwerkzeuge
Solche Schärfwerkzeuge können sein, unwichtige Termine abzusagen, mehr Zeit offline zu verbringen, die Ernährung umzustellen, neue Fähigkeiten zu lernen, Tagebuch zu schreiben, zu meditieren, ein Wochenende lang wandern zu gehen oder die Wohnung auszumisten. Alles, was die Routine durchbricht, ist hilfreich.
Ich bin jetzt seit 2012 selbständig. Gerade in der der Selbständigkeit ist es so verdammt wichtig, nicht mit einer stumpfen Säge rumzurennen. Als Selbständiger bemisst sich mein Wert an der Anzahl der gefällten Bäume, nicht an den Stunden, die ich im Wald bin.
Zu Beginn habe ich als Übersetzer gearbeitet. Nach einem Jahr hatte ich so viele Aufträge, dass ich diese an andere Freiberufler auslagern konnte. Als Agenturinhaber war es nun meine Aufgabe, möglichst viele Kunden und gute Mitarbeiter zu finden.
Ich war damals ziemlich euphorisch, habe oft ohne Wochenende über zehn Stunden am Tag gearbeitet. Ich habe alles gelernt, was es über Mitarbeiterführung, Kundenakquise und Online-Marketing zu lernen gab. Das Geschäft ist gewachsen, aber ich wurde immer unzufriedener. Ich konnte überhaupt nicht verstehen, warum.
Heute, rückblickend, habe ich verstanden, dass ich ständig das Tempo erhöht, dabei aber in die falsche Richtung gelaufen bin. Ich mochte weder meine anstrengenden Kunden, noch die unzuverlässigen Freelancer, mit denen ich zusammengearbeitet hatte. Den ganzen Tag lang war ich am Telefon und hatte mit Zahlen zu tun. Das waren Dinge, die mir einfach keine Freude machen.
Über ein Jahr lang habe ich mir nicht die Zeit genommen, meine Säge zu schärfen. Ich war so schnell unterwegs, dass keine Zeit für Pausen blieb. Hätte ich eine Pause eingelegt, wäre mir wahrscheinlich schon viel früher aufgefallen, dass ich mein Geschäftsmodell hätte ändern müssen.
Heute nehme ich mir diese Pausen regelmäßig. Wenigstens eine Stunde am Tag, nur für mich. Und jeden Monat ein paar zusammenhängende Tage. Ich gehe dann einen Schritt zurück und schaue mir mein Leben aus einiger Entfernung an. Dann frage ich mich, ob meine Beziehungen, meine Gesundheit, mein Business und andere Lebensbereiche noch im Einklang mit dem stehen, was ich für erstrebenswert halte. Dann gehts mit einer geschärften Säge wieder in den Wald.
Für mich ist diese Balance zwischen Ruhezeiten und Schaffenskraft, zwischen Inspiration und Kreation, unglaublich wichtig. Genauso wie Muskeln in den Pausen zwischen den Trainingseinheiten wachsen, muss die Säge zwischen dem Fällen von Bäumen immer wieder mal geschärft werden.
Als Podcast anhören
Dieser Beitrag ist als Folge unter dem Podcast "Aufgewacht" erschienen. Du kannst ihn dir hier durchlesen, anhören oder auf deinem bevorzugten Gerät kostenlos abonnieren, um keine zukünftigen Folgen mehr zu verpassen.