Seit einiger Zeit schon schreibe ich an diesem Eintrag, der euch gerade über den Bildschirm flackert. Ich habe ihn umgeschrieben, ich habe gelöscht und hinzugefügt. So wirklich schaffte ich es nicht, meine Gedanken in Worte zu fassen. Es ist, und dabei stimmt ihr mir womöglich zu, doch immer dasselbe: Sind Gefühle zu stark, so fällt es schwer, sie auszudrücken. Ob himmelhochjauchzend oder zu Tode betrübt, das Ergebnis eines jeden – wenn auch nur annähernd – literarischen Ergusses ist ein Fall für die Taste rechts oben.
Im meinem Fall handelt es sich natürlich (und daran habt auch ihr, liebe Leser, wohl keine Sekunde gezweifelt) um himmelhochjauchzende Freude. Ich fühle mich derzeit in etwa so, wie ein Steak, das nach langer Zeit in tiefgekühltem Zustand aufgetaut wird. (Anm.: Dieser Vergleich bestätigt übrigens die Aussage einiger Freunde, dass meine auf Essen und alles Kulinarische fixierte Lebenseinstellung beängstigende Ausmaße annimmt.) In der Tat hat der Frühling Irkutsk schon längere Zeit in fester Hand. Während der europäische Teil Russlands seit Wochen im nassen, kalten Grau sitzt, genießt der gesamte südliche und südöstliche Teil Sibiriens Sonne und Wärme.
Mein Alltag spielt sich dieses glücklichen Zufalls wegen seit einiger Zeit auf der Straße ab. An den Wind, der plötzlich nicht mehr schneidend war und schmerzte, sondern sanft und lau, musste ich mich gewöhnen. Ebenso an das Gefühl, leicht bekleidet, ja sogar im T-Shirt durch Irkutsk zu spazieren.
Welch eine Freude, als vor eineinhalb Monaten auf den Thermometern der Stadt das erste Mal das Minus vor der Zahl verschwand. Bleiche Menschen strömte auf die Straßen, schlenderten durch die Innenstadt und spazierten an der Uferpromenade entlang. Die Mützen verschwanden, der Pelz ebenso. Die Röcke der Damen wurden kürzer – und die Absätze höher.
Die Pfützen und die reißenden Ströme, in die sich so manche Straße verwandelte, taten der Freude über die zaghaften Plusgrade keinen Abbruch. Ebensowenig der Schlamm, der Dreck und der Müll, monatelang gefroren und von Schnee bedeckt, nun mit dem Tauwetter zum Vorschein kamen. Und das Geräusch von Regen, das ich seit Oktober nicht mehr gehört hatte, ja das vernahm ich in einer Nacht vor einigen Tagen. Ich kann mich nicht daran erinnern, mich je zu Hause so über das Trommeln von Regentropfen gefreut zu haben.
Es scheint, als würde all die Energie und Lebenslust, die der lange Winter erstarren hat lassen, mit einem Mal frei. Es wird gejoggt, geradelt (Chapeau vor den Wagemutigen, die sich in den Irkutsker Verkehr stürzen), gesungen, getanzt – oder einfach in der Sonne gelegen – überall grinsende, manchmal leicht angeheiterte und nicht mehr allzu bleiche Gesichter. Frühling in Sibirien macht Spaß.
Anders, aber dennoch unvergesslich war der Winter in Irkutsk. Es war einzigartig, mein Leben in der Tiefkühltruhe. Ich habe sie verflucht und geliebt, die Kälte. Die gefrorenen Nasenhärchen, die verklebten Augenwinkel und die taube Nasenspitze; das weiße Irkutsk, ganz von Raureif und Schnee bedeckt und von der tiefstehenden Sonne beschienen; die Angara, ihre frostigen Dampfwolken und der Baikalsee, der mystisch vor sich in dampft – all diese Bilder werde ich nie vergessen. Und gleichzeitig vermissen.
Ich war auf Langlaufskiern unterwegs, bei -25 Grad. Ich bin durch den Wald gejoggt, bei -28 Grad. Ich war eislaufen, bei -29 Grad. Ich bin durch die Stadt geschlendert, bei -35 Grad. Und ich bin den kurzen Weg von einer Bar zum Taxi gelaufen, bei -39 Grad. Ich habe überwintert.
Lange hat er auf sich warten lassen, der sibirische Winter. Der Herbst war viel zu warm. Dann aber, Ende November kamen Eis, Schnee und Kälte. Schon Mitte Dezember rutschte das Thermometer in Richtung -40 Grad. Eine ganze Woche lang bibberte Irkutsk zwischen bei Temperaturen zwischen -40 Grad nachts und -30 Grad tags. Als es dann von einem Tag auf den anderen um 20 Grad wärmer wurde, fühlte sich es wie Sommer an. Wirklich.
Nun aber hat sich Väterchen Frost verabschiedet. Mit ein wenig Wehmut blicke ich ihm nach. Wenn ich dieser Tage bei gut 20 Grad plus in der Sonne am Ufer der Angara sitze, kann ich es kaum glauben, noch vor ein paar Monaten bei Temperaturen von unter minus 30 Grad an genau derselben Stelle gestanden zu haben.
Die Straßenarbeiter, die damals noch fleißig und äußerst gründlich (was mit einem Eintrag schon gehuldigt wurde) Schnee, Reif und Eis von Straßen, Plätzen und Gehsteigen entfernten, sind nun dabei zu harken, zu kehren, zu streichen und zu putzen. Besonders in den letzten Tagen war eine ganze Armada von Männern und Frauen in Orange in der Stadt unterwegs. Geländer und Fassaden wurden neu gestrichen, Bäume und Sträucher geschnitten, Straßen neu asphaltiert. Wer allerdings glaubt, dass alleine der Frühling die Stadtverwaltung zu diesen unglaublichen Taten treibt, der irrt.
Dima kommt. Dmitrij Medwedjew, der russische Präsident, weilt derzeit in Hongkong und legt auf dem Rückweg nach Moskau einen Zwischenstopp in Irkutsk ein. Wann genau, ist unklar. Und wie es in Russland üblich ist, wird vor einer präsidialen Visite alles, das an der geplanten Route des hohen Gastes liegt, auf Hochglanz gebracht. Oberflächlich, zumindest. Der erste Eindruck zählt.
Apropos Eindrücke (der guten Überleitung willen): Fotos zur visuellen Bekräftigung und Bestätung, wie Spätwinter und Frühling in und um Irkutsk aussehen, folgen in Bälde.