Schon im zarten Teenageralter habe ich es geliebt, wahllos durch die Landschaft zu streifen, meistens im einsamen Berliner Randgebiet zwischen Ahrensfelde, Blumberg und Schwanebeck. Stundenlang, mit den Gedanken irgendwo im nirgendwo, nur ich und die wilden Wiesen an der Grenze zu Brandenburg. Herrlich! Hier in England kehre ich zurück zu dieser pubertären Marotte und fühle mich jugendlich wie nie. Na ja , die Beine müssen sich immer noch an die hügelige Landschaft hier gewöhnen und das Schnaufen beim Aufstieg ist noch nicht ganz einem beschwingten Bergsteigerlächeln gewichen, aber die innere Einstellung ist voll positivem Tatendrang.
Wichtig: Ziele stecken
Hier im Colne Valley sind ausgedehnte Wanderungen einfach nicht auszuschlagen. Also, Rucksack geschnürt, Karte geschnappt und auf geht`s! Ein Spaziergang zum Farmshop nach Bolster Moor steht auf dem Tagesprogramm. Dort winkt eine Oase mit verschiedensten Delikatessen aus der Region und ein Café mit atemberaubendem Blick auf das Nachbardorf Golcar.
Public Footpaths – Mit Vorsicht zu genießen
Die Hälfte der Strecke ist mir schon von einem früheren Ausflug bekannt, aber ich möchte heute gern neue Wege einschlagen und bin dank ortskundiger Karte auch recht zuversichtlich. Die Routenplanung ist hier im Norden zugegebenermaßen etwas abenteuerlich. Zwar gibt es allerorten freundliche, manchmal etwas verblichene Wegweiser, die einen Pfad als öffentlichen Fußweg ausweisen, aber ob die auch tatsächlich begehbar sind, ist nie sicher. Denn oftmals führen diese Trampelpfade mitten durch Farmland. Die Eigentümer müssen zwar Wanderer darauf passieren lassen, allerdings bemüht sich der eine oder andere auch darum, die Wege so unattraktiv wie möglich zu gestalten. Zum Beispiel, indem man die Natur einfach für sich arbeiten lässt, sodass mitunter dornige Büsche und undurchdringliche Hecken ein Weiterkommen verhindern. Doch manchmal kann es eben auch ziemlich lebensgefährlich werden, wenn der Farmer sein Rind etwa nicht ordnungsgemäß einzäunt. Es schwebt also immer ein leichtes Unbehagen mit, wenn man so einen Fußweg betritt.
Da Mama und Schwesterlein gerade zu Besuch sind, möchte ich natürlich ein wenig mit unserer schönen Landschaft prahlen und überlege mir eine nette mehrstündige Wanderung durchs Gelände, die auf verschlungenen Pfaden, vorbei an spektakulären Aussichtspunkten und abwechslungsreicher Szenerie von Slaithwaite, über Wellhouse nach Bolster Moor führt.
Gestärkt auf den Rückweg
Wir brauchen etwas mehr als eine Stunde, bis wir das kleine Dörfchen mit dem Farmshop erreichen, denn Frau Mama begutachtet als ausgewiesener Blumenfan die einheimische Pflanzenwelt mit besonderer Sorgfalt, bestimmt Exemplar für Exemplar und erfreut sich an der Vielfalt und Farbpalette der englischen Vegetation. Schwesterchen knipst währenddessen fleißig mit der Kamera und hält fest, was für festhaltungswürdig befunden wird. Ich freue mich, dass es den beiden hier draußen so gut gefällt und habe zum ersten Mal keinerlei grundlegende Orientierungsschwierigkeiten. Im Farmshop angelangt stöbern wir durch das Naschwarenangebot und genehmigen uns kurz vor Ladenschluss noch einen kräftigen Cappucino im hauseigenen Café. Dann ertönt um Punkt halb Fünf die Rausschmeißermelodie und wir machen uns vom Koffein erquickt auf den Rückweg, der uns über Westwood nach Slaithwaite zurückbringen soll.
Mit der Karte in der Hand fühle ich mich mutig genug, um einen mir noch völlig unbekannten Public Footpath einzuschlagen und die Hauptstraße zu verlassen. Dieser führt quer über ein riesiges Feld und endet plötzlich abrupt mitten im saftigsten Grün, das sich einen Abhang hinunterzieht. Während Frau Mama etwas unsicher wird und zögernd innehält, presche ich vor, um zu sehen, wie es weitergehen könnte. Doch ich erblicke vor uns nur einen Stacheldrahtzaun und kein Tor weit und breit. Tja, das war wohl nichts! Doch es lohnt sich eben, immer nochmal genauer hinzuschauen, denn auf den zweiten Blick entdecke ich einen hölzernen Überstieg und ich weiß sofort, wir sind auf dem richtigen Weg. Diese kleinen Holztreppchen sind im Grunde, so habe ich das von meinem Engländer gelernt, immer ein Zeichen, dass man hier legal den Zaun übertreten darf, sich also immer noch auf dem öffentlichen Fußweg befindet.
Als ich schon mal hinübersteige, höre ich Mama hinter mir etwas ungeduldig werden: “Steffi, hier können wir nicht lang!” Nun, ich erinnere mich schlagartig wieder, dass wir ja eigentlich Großstädter sind und dazu noch aus dem Land der Restriktionen stammen. Auch ich habe natürlich am Anfang etwas ungläubig reagiert. Aber hinter dem Zaun sehe ich, wie sich der Fußweg weiterschlängelt und ich bin mir einfach sicher: Das geht.
Wir stiefeln auf etwas losen Steinstufen einen mit vertrocknetem Farn bekleideten Abhang hinab und gelangen in ein kleines Wäldchen.
Jetzt im Mai sind Englands Wälder bedeckt von kleinen blauen Glockenblumen. (Wohlgemerkt, die Proportionen sind hier nicht mit einem deutschen Wald gleichzusetzen; das Märchen von Hänsel und Gretel, wie mein Engländer unlängst zugab, wäre in England längst nicht so dramatisch verlaufen, ganz einfach weil man sich eben in einem englischen Wäldchen nicht verlaufen kann, wenn man nicht völlig auf die schiefe Bahn geraten ist.) Ich atme den hölzernen Duft der Bäume, die hier in den Mooren so rar gesät sind, tief in mich hinein und schätze mich glücklich, diese kleine Zuflucht entdeckt zu haben, in die ich zurückkehren kann, wenn ich den heimatlichen Wald vermisse, was relativ häufig vorkommt.
Während Frau Mama völlig ungeniert (wir befinden uns immerhin auf privatem Boden) ein paar Glockenblumen für den heimischen Garten samt Wurzeln aus der Erde zieht und dabei von einem Engländer beobachtet wird, der in seinem Gartenstuhl Sonne tankt, gehen wir einfach schon mal weiter. Wir gelangen auf eine Lichtung und stehen ganz plötzlich wieder auf der Radcliffe Road in Slaithwaite. Ich bin ziemlich verblüfft, dass wir uns nicht mal ansatzweise verirrt haben. Etwa 4 Stunden waren wir unterwegs und haben per Zufall und dank altertümlicher Navigationshilfe sogar einen ziemlich attraktiven Rundweg entdeckt.