“Junge Welt”, 27.10.2011
Prekarisierung und Pauperisierung in den USA befeuern Proteste gegen die kapitalistische Dauerkrise. Reale US-Arbeitslosenquote von mehr als 20 Prozent
Die Occupy-Wallstreet-Bewegung in den USA hat sich bereits in Hunderten von Ortschaften etabliert. Auch in der US-amerikanischen Hauptstadt Washington versammelten sich Tausende Menschen in zwei Zeltlagern zum Protest gegen die kapitalistische Dauerkrise und die zunehmende soziale Ungleichheit in den Vereinigten Staaten. Die Demonstranten in den beiden Zeltstädtchen auf dem McPherson-Platz und dem Freedom Plaza erhalten verstärkt Zuspruch von den Obdachlosen, wie die Washington Times am 25.Oktober berichtete: »In wachsender Zahl« würden sich die Ärmsten der Armen Washingtons in den Protestcamps engagieren, die ihnen ein zuvor nicht gekanntes Gefühl der »Sicherheit und Gemeinschaft« verschafften. Für die Demonstranten seien die Schicksale der Obdachlosen »emblematisch für ein Wirtschaftssystem, daß die Unterklassen ausgrenzt.«
9,3 Millionen prekär
Dabei dürfen sich die Protestierenden in Washington und anderswo auf weiteren Zustrom einstellen, da die »Unterklasse« in den Vereinigten Staaten größer wird. Immer mehr Menschen zwischen New York und Los Angeles sind marginalisiert. Besonders deutlich läßt sich dieser dramatische Pauperisierungsschub am rasanten Anstieg der Zahl der Lebensmittelkartenbezieher ablesen, der seit Krisenausbruch unvermindert anhält. Im vergangenen Juli bezogen rund 45,1 Millionen US-Bürger in 21,4 Millionen Haushalten Nahrungsmittelhilfen, was in etwa 14,5 Prozent der Gesamtbevölkerung der USA entspricht. Die Zahl ist seit dem Januar 2006 um 18,8 Millionen Menschen, also um rund 40 Prozent, angewachsen. Dabei ist zu berücksichtigen, daß selbst bei den Lebensmittelzuweisungen viele Bedürftige nicht bezugsberechtigt sind, da diese Sozialleistung volljährige US-Bürger nur für drei Monate in einem Zeitraum von drei Jahren in Anspruch nehmen können. Zudem müssen die Antragsteller nachweisen, sich aktiv um einen Job zu bemühen.
Diese Verelendungsprozesse – die längst auch die US-amerikanische Mittelklasse erfaßt haben – finden in der offiziellen Arbeitslosenquote von »nur« 9,1 Prozent keine Entsprechung. In dieser werden beispielsweise all jene Mensch nicht erfaßt, die die Jobsuche resigniert aufgegeben haben. Realistische Einschätzungen der Krise der US-amerikanischen Arbeitsgesellschaft, wie sie etwa vom Wirtschaftsportal shadowstats.com vorgenommen werden, kommen auf eine reale Arbeitslosenquote von mehr als 20 Prozent. Dabei werden auch die 9,3 Millionen Bürger berücksichtigt, die »unterbeschäftigt« sind, da sie lediglich mies bezahlte und prekäre Gelegenheitsjobs finden. Hinzu kämen 2,5 Millionen Menschen, die nur noch »marginal« am Arbeitsmarkt beteiligt würden, weil sie sich auf Jobsuche befänden, ohne offiziell als erwerbslos gemeldet zu sein: Zusammengenommen seien »26 Millionen Amerikaner entweder arbeitslos, marginal am Arbeitsmarkt beteiligt oder unterbeschäftigt«, faßte das Nachrichtenportal USnews zusammen.
Die weit vorangeschrittene Prekarisierung wird aus längerfristiger Perspektive deutlich: Während in 1980 29Prozent der US-Arbeitsplätze im Niedriglohnsektor angesiedelt waren, sind es derzeit schon 41 Prozent. Der Anteil der gut dotierten Stellen der sogenannten Mittelklasse ist hingegen im selben Zeitraum von 52 Prozent aus 42 Prozent aller Arbeitsgelegenheiten gefallen. Somit dürften bei gleichbleibender Tendenz künftig prekäre und schlecht entlohnte Jobs die neue Norm darstellen. Dabei erhalten bereits jetzt rund 20 Prozent der aller Vollzeitkräfte in den USA Vergütungen unterhalb der Armutsgrenze: »Das ist auch eine Art der Unterbeschäftigung – Jobs von einer schlechten Qualität«, erklärte der Wirtschaftspublizist Paul Osterman gegenüber USnews.
Schere wird größer
Diese Pauperisierung kontrastiert mit einer ungebremst fortgesetzten Konzentration von Wohlstand in den Händen einer oligarchischen Oberschicht. Letztere wird dank der Proteste der Occupy-Wallstreet-Bewegung nun auch in den Massenmedien thematisiert. So fand eine langfristige Einkommensstudie des Wirtschaftsausschusses des US-Kongresses einen breiten Widerhall in der Öffentlichkeit. In der wird ein extremer Anstieg der nominalen Einkommen des reichsten Hundertstels der US-Bürger um 275 Prozent zwischen 1979 und 2007 konstatiert, während die Mittelklasse ihre nominalen Einkünfte gerade mal um 40 Prozent steigern konnte. Die reichsten US-Amerikaner, die das von der Protestbewegung kritisierte oberste Prozent der Gesellschaft ausmachen, konnten ihren Anteil an dem Gesamteinkommen in diesem Zeitraum von acht auf 17 Prozent mehr als verdoppeln. Das oberste Fünftel in der US-Klassengesellschaft verdiente zwischen 2005 und 2007 mehr als die restlichen vier Fünftel.
Die in der Krise beschleunigte Verarmung und die wachsende Einkommensungleichheit dürften zu den breiten Sympathien für die Occupy-Wallstreet-Bewegung beigetragen haben. Einer Umfrage des Fernsehsenders CBS zufolge stimmen 43 Prozent der US-Bevölkerung den Protesten zu. Nur 27 Prozent der Befragten lehnten die Demonstrationen ab, während 30 Prozent unentschieden waren. Angesichts weiter anhaltender wirtschaftlicher Stagnation und trüber Konjunkturaussichten werden die sozialen Erosionsprozesse zwischen Massachusetts und Kalifornien voranschreiten. Womöglich ein Grund für die verstärkte Repression, der immer mehr Protestcamps in den USA ausgesetzt sind. In den vergangenen Tagen griffen Polizeikräfte Demonstranten in Chicago, Philadelphia, Dallas, Orlando, Cincinnati, Phoenix und Tampa an, wobei Hunderte Menschen festgenommen wurden. In Oakland setzte die Polizei Tränengas und Schlagstöcke ein, um ein seit zwei Wochen bestehendes Zeltlager zu räumen.