Auf krummen Rücken

Von Robertodelapuente @adsinistram
Noch vor zwei Monaten haben die offiziellen Kanäle des Zeitgeistes Entwarnung gegeben: Aufstocker seien selten - und es würden auch immer weniger. Aufschwung und so. Arbeitsmarkt intakt et cetera. "Nur" sagenhafte 1,3 Millionen Menschen stockten demnach auf. Man dürfe sich keine Legionen von Niedriglöhnern vorstellen, gab man sich selbstbewusst.

AUF-wärts! AUF-wärts!

Dieselben Kanäle berichten nun zähneknirschend, dass es in Deutschland etwa 3,1 bis 4,9 Millionen Menschen gibt, die eigentlich eine Berechtigung auf Arbeitslosengeld II hätten, die aber ihrem Anspruch nicht nachgingen. Unwissenheit, Scham und eine möglicherweise nur geringe Aufstockungssumme seien die Gründe, meint das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Wahrscheinlich kommt noch hinzu, dass sich manche Hungerlöhner die miesen Touren seitens der Jobcenter nicht antun wollen.

So ist das im Deutschland der Kanzlerin. Alles was nicht statistisch erfasst ist, existiert nicht. Potenzielle Aufstocker zählen wir nicht nur nicht, wir erklären sie gleich noch zum Anzeichen einer gesunden Prosperität. Denn wer nichts einfordert, dem geht es offenbar ganz gut. Eingeschüchterte Menschen, die von der Arbeit, die sie tun, nicht leben können, werden so auch noch zum Aushängeschild einer Arbeitsmarktpolitik, der man im Abschwung der Menschenwürde unsinnigerweise einen Aufschwung attestiert.
Diese wirtschaftlich gesunden Zeiten bauen auf den krummen Rücken von Niedriglöhnern und prekarisierten Arbeitskräften auf. Dieser Selbstbetrug namens Aufschwung, der jenem Teil der Mittelschicht das Gehirn vernebelt, der noch an die Segnungen dieses Finanzkapitalismus glaubt, der die Verwettbewerbung des Gemeinwesens für vernünftig erachtet und die betriebswirtschaftliche Auslegung der Gesellschaft befürwortet ... diese Mittelschicht ist massiv abhängig von der großen Masse der Unterbezahlten und Überarbeiteten. Weil es sie gibt, glauben sie an einen gesunden Arbeitsmarkt. Schließlich begegnen sie Niedriglöhnern im Lokal, in Pflegeheimen und bei Kurier- und Lieferservices - und das läßt sie schlussfolgern: Es gibt genug Arbeit, man muss nur wollen!
Aber natürlich hat auch weiterhin alles in Ordnung zu sein. Wo kein Kläger, da kein Richter und wo kein Leistungsberechtigter, da kein Niedriglohnsektor auf Massenbasis. Die Wirtschaft brummt ordentlich und die Arbeitslosenzahlen gehen zurück. Mit Scheuklappen durch den völligen Realitätsverlust. Und das nennt man dann Erfolgsbilanz und serviert es den europäischen Nachbarn als Patentrezept. Jetzt heißt es aussitzen bis zu den nächsten geschönten Arbeitslosenzahlen. Dann ist die Hiobsbotschaft schnell vergessen. Wenn die tönende Wochenschau mit Fanfaren verkündet, dass wir auf Kurs sind, suhlt man sich in Selbstzufriedenheit. Auf Kurs wohin? Egal, Hauptsache on a road.