Alexander von Humboldt versuchte 1802, den Chimborazo zu besteigen, und machte den höchsten Vulkan Ecuadors zu einem Mythos. Wer den Fußstapfen des berühmten Forschers folgt, kommt dem Himmel ganz nah.
A lexander von Humboldt bluten die Hände, als er sich die Hänge des Chimborazo hinaufkämpft. Es ist der 23. Juni 1802 in den Anden des heutigen Ecuadors, das scharfe Vulkangestein schlitzt dem neugierigen Universalgelehrten bei jedem Fehltritt die Haut auf.
"Unsere Begleiter waren vor Kälte erstarrt und ließen uns im Stich", wird Humboldt später in seinem Tagebuch notieren. "Sie versicherten, sie würden vor Atemnot sterben, obwohl sie uns wenige Stunden zuvor voller Mitleid betrachtet und behauptet hatten, daß die Weißen es nicht einmal bis zur Schneegrenze schaffen." Das war eine Fehleinschätzung. Der berühmte deutsche Naturforscher steigt so hoch wie kein Mensch zuvor.
Mit dem Versuch am Chimborazo, der damals als höchster Berg der Erde galt, begründete Humboldt einen Mythos. Er inspirierte Schriftsteller und Maler. Simón Bolivar stilisierte den eigenen Gipfelsturm 1822 gar zum Symbol für die Befreiung Südamerikas von den Spaniern. Heute ziert der 6268 Meter hohe Vulkan das Wappen Ecuadors.
Während Humboldt damals noch das Fehlen eines einheimischen Führers beklagte, müssen heutige Trekkingtouristen auf diese Hilfe nicht verzichten. Die Agenturen in Ecuadors Hauptstadt Quito bieten eine kommerzielle Besteigung des technisch leichten Vulkans auch für Reisende an, die noch nie auf Steigeisen gelaufen sind. Der Gipfel ist vermessen und erforscht. Gezähmt und entzaubert, könnte man sagen. Nein, der Aufstieg auf dem Chimborazo ist keine Pionierleistung mehr, aber immer noch eine große Leistung. Kein Scheinabenteuer mit Erfolgsgarantie. Viele scheitern, an der Höhe, an der Kondition.
"Todo bien?" Alles in Ordnung? Bergführer Wily Rivera Iza, 29, dreht sich in der milden Gipfelnacht immer wieder zu mir um und erkundigt sich nach meinem Wohlbefinden. Es ist gut zwei Stunden nach Mitternacht, jenseits von 5200 Metern. Sterne funkeln am Himmel. Die Route führt jetzt bald nur noch über Gletscher, es geht steil bergan. Und die Luft ist schon ziemlich dünn. Das Atmen fällt schwer. Sí sí, todo bien, noch.
Wer sich unvorbereitet an den Chimborazo wagt, wird scheitern oder riskiert seine Gesundheit. Eine gute Akklimatisierung ist alles, sonst droht soroche, die Höhenkrankheit.
Die Symptome beschrieb Humboldt schon vor mehr als 200 Jahren: "Wir fühlten eine Schwäche im Kopf, einen ständigen Schwindel, der in der Situation, in der wir uns befanden, sehr gefährlich war." Hinzu kamen Übelkeit und Zahnfleischbluten. Der Forscher erfasste den Effekt der Höhe auf den Körper erstaunlich präzise: Der geringe Sauerstoffpartialdruck sorgt dafür, dass die Lunge viel weniger Sauerstoff aufnehmen kann als auf Seehöhe.
Für den Chimborazo braucht man deshalb eine Woche Zeit. Und wer nur nach Ecuador reist, um möglichst schnell auf den Gipfel zu steigen, macht sowieso etwas falsch. Denn die 300 Kilometer lange "Straße der Vulkane" ist in ihrer kargen Schönheit viel zu bestechend, um seine Anwesenheit in den ecuadorischen Anden allein einem sportlichen Ziel zu unterwerfen. Es geht um Anmut und Ästhetik, demütiges Schauen und Staunen. Fast wie nebenbei steigt man da auf die niedrigeren Gipfel, um sich zu akklimatisieren. Der Blick geht so selten wie nötig auf den Pfad vor den eigenen Füßen und so häufig wie möglich in die Ferne.
Fünf Tag vor der Gipfelnacht am Chimborazo sitze ich mit meinem Bergführer Wily auf der Terrasse einer hübschen Hacienda nördlich von Quito. Wir besprechen die Touren: zuerst auf den Fuya Fuya (4263 Meter), dann auf den Imbabura (4630 Meter), zuletzt die obligatorische Technikschulung am Vulkan Cayambe in rund 5000 Metern Höhe.
Wily stand schon mehr als hundert Mal auf dem Gipfel des Chimborazo. Für mich wäre es mein bis dahin höchster Gipfel, deutlich mehr als 6000 Meter. "Wenn du dich nicht gut angepasst hast, wirst du Probleme bekommen, und wir müssen umkehren", warnt mich der kleine stämmige Ecuadorianer mit den sanften Augen. In großer Höhe seien sogar Halluzinationen möglich. "Manche Kunden haben dort schon Bären und Füchse gesehen." Andere, wie man weiß, einen Schneemenschen namens Yeti...
Einstweilen sind das ewige Eis und die halluzinogene Höhenluft noch weit weg. Warm scheint das Abendlicht auf die Berge rund um den Ort Cayambe. Die Hacienda ist prachtvoll gelegen, allerdings nur auf 2800 Metern. Etwas dürftig für die nächtliche Akklimatisierung.
Die Tour auf den Fuya Fuya beginnt überaus zahm an der Laguna Mojanda auf 3600 Metern. Páramo heißt die tropisch-alpine Landschaft nahe des Äquators in dieser Höhe. Gelb blüht der Romerillo. Vom Kratersee aus verläuft der Trampelpfad durch das typische Ichu-Gras, das hier paya genannt wird. "Die Menschen benutzen es zur Dämmung ihrer Häuser", klärt Wily auf. Dann zerreibt er einen Strauch, der leicht nach Minze riecht und im Tee angeblich gegen die Höhenkrankheit helfen soll. Doch die ist zu ernst, um auf Placebos zu vertrauen. Also lieber noch ein bisschen höher steigen, Meter machen, den Körper anpassen.
Entspannte zwei Stunden sind es auf den Fuya Fuya. Von oben kann man bis nach Quito schauen, was überrascht, weil die Autofahrt von dort zum Berg zwei Stunden gedauert hat. Die Ausdehnung des Vulkans ist so gewaltig, das sie immer wieder das Auge täuscht. Der Fuß hat einen Durchmesser von mehreren Kilometern. Auch die schiere Höhe der Berge unterschätzt das Gehirn. Die Millionenstadt Quito liegt bereits auf 2850 Metern. Humboldt schrieb wieder erstaunlich treffend: "Berge, die uns durch ihre Höhe in Erstaunen versetzen würden, wenn sie am Meeresufer stünden, sehen aus wie bloße Hügel, wenn sie sich auf dem Rücken der Kordilleren erheben."
Humboldt hielt die gesamte Gebirgskette der Anden-Westkordillere für unterhöhlt, für einen riesigen Supervulkan - was im Prinzip stimmt. Ecuador hat die höchste Vulkandichte der Welt. Unter dem Land brodelt es quasi ständig. Im Sommer 2015 war der Cotopaxi zuletzt aktiv, bis dato einer der beliebtesten Trekkingberge des Landes. Die Asche flog bis nach Quito, der Präsident verhängte vorsorglich den Ausnahmezustand.
Doch die gefährliche Plattentektonik hat eben auch eine majestätische Landschaft geschaffen. Das Abendlicht streicht die Berge in warmen Farben an, ob rund um Cayambe oder hoch über der Hauptstadt mit Blick auf den Cotopaxi.
Wer das nicht glaubt, der möge Humboldt heranziehen. Er beschrieb das Hochland von Quito als eine der "wundervollsten und malerischsten Gegenden der Erde". Der Forschungsreisende war auf seiner zweiten Südamerika-Expedition mehrere Wochen in der Provinz Quito unterwegs, die in kolonialen Zeiten die längste Zeit zum Vizekönigreich Peru gehörte.
Während der Aufstieg zum Fuya Fuya nicht mehr als eine leichte Wanderung ist, hat die Besteigung des Imbabura am Folgetag durchaus hochalpinen Charakter. Die letzte Stunde zum Gipfel führt abschüssig über Felsen, man braucht hin und wieder die Hände. Ja, das bereitet Freude. Am Gletscher des Cayambe wiederum bespricht Wily noch einmal die Ausrüstung und übt das Gehen auf Steigeisen und die Benutzung des Eispickels. Pflichtprogramm. Wer all dies aber nicht bereits in den Alpen erlernt hat, handelt streng genommen fahrlässig und sollte sich nicht unbedingt gleich am Chimborazo versuchen. Doch ein zahlender Kunde ist für die Agenturen in erster Linie ein zahlender Kunde und kein blutiger Anfänger, der sich ohne Not in Gefahr begibt.
Am Tag vor der Gipfelnacht geht es vom Cayambe über Quito nach Süden, eine Autofahrt von mehreren Stunden. Irgendwann rückt der mächtige Chimborazo endlich ins Blickfeld. Stolz thront er über der kargen Ebene. Wilde Vikunjas grasen vor dem Gipfelaufbau, so als hätten sich die Tiere dort eigens für einen Landschaftsmaler postiert.
Das Quartier für die kurze Nacht ist die Carrel-Hütte in 4800 Metern Höhe, eine überraschend bequeme Unterkunft mit Stockbetten. Abends schenkt der Koch eine kräftige charusco aus, eine Kartoffelsuppe. Die untergehende Sonne wirft ihre feuerroten Strahlen über das Wolkenmeer, aus dem der Vulkankegel wie eine Insel herausragt.
In der Nacht zeigt sich bald, dass die Besteigung des Chimborazo trotz Akklimatisierung und moderner Technik ein beschwerliches Unterfangen ist. Ab 5800 Metern wird die Besteigung für mich zu einem zähen Ringen mit den eigenen Kräften. Die Serpentinen winden sich steiler den Hang hinauf, als es von unten aussieht. Aber wie naiv bin ich auch, in diesen Bergen meinen Augen zu vertrauen.
Schneefall setzt ein. Die Bergstiefel hängen schwer an den Füßen. Kein Höhenmeter kommt mehr locker aus den Oberschenkeln. Stirnlampen anderer Bergsteiger leuchten in der Ferne, doch viele kapitulieren. Lunge und Beine zwingen sie zur Umkehr.
23. Juni 1802: Humboldt hofft, über einen Felsgrat statt über Schnee zum Gipfel aufsteigen zu können. Er hat keine Steigeisen. Die Füße schmerzen, die Kälte beißt unerbittlich. "Unser Aufenthalt in dieser ungeheuren Höhe war äußerst traurig und düster. Wir waren in einen Nebel gehüllt, der uns nur hin und wieder die uns umgebenden Abgründe erblicken ließ." Dann wieder zaghafter Optimismus, womöglich durch optische Trugbilder hervorgerufen: "In uns kam ein Schimmer von Hoffnung auf, den Gipfel erreichen zu können."
Am Ende sind alle Mühen vergebens. Eine gewaltige Gletscherspalte versperrt Humboldt den Weg und zwingt ihn zur Umkehr. Er kommt bis auf etwa 5600 Meter. Erst 1880 erreicht der britische Alpinist Edward Whymper als erster Mensch überhaupt den Gipfel des Berges.
Wir haben mehr Glück und laufen nicht arglos vor irgendwelche Spalten. Bergführer Wily macht im eisigen Dunst den Vorgipfel des Chimborazo aus, den Ventimilla. Er bleibt jetzt immer häufiger stehen, um mir etwas Zeit zum Durchatmen zu geben. Kurz vor dem Gipfel flacht das Massiv ab. Wir durchschreiten jetzt Büßereis, auch Zackenfirn genannt: Nadeln aus Schnee und Eis, typisch für die Hochgebirge der Tropen.
Nach einer weiteren quälenden halben Stunde ist der Hauptgipfel erreicht. Atmen, trinken. Das Blut rauscht durch die Schläfen.
Wir befinden uns an jenem Ort auf der Welt, der am weitesten vom Erdmittelpunkt entfernt liegt - quasi am nächsten zur Sonne. Das liegt daran, dass der Durchmesser am Äquator größer ist als zum Beispiel am Standort des Mount Everest, dem höchsten Berg der Welt. Doch von Wärme oder gar himmlischer Erleuchtung ist nichts zu spüren. Menschenfeindlich ist die Eiswelt auf Humboldts Schicksalsberg. Keine Fernsicht, die Kuppe liegt im Dunst.
War unsere Besteigung nun der große Sieg, der dem Forscher einst verwehrt blieb? Die persönliche Landnahme des modernen Entdeckers?
Humboldt selbst verortete die ästhetische Erfahrung in der Schrift "Ansichten der Kordilleren" nicht auf dem Berg, sondern darunter. Nicht die Aussicht sei erhebend, sondern die Ansicht des Berges. Beides erlebt zu haben, ist aber zweifellos die schönste Kombination, wie ich finde. Das konnte Humboldt ja nicht ahnen.