Im Vergleich zu Südengland sind imposante Schlösser und Herrensitze hier im Norden etwas rarer gestreut. Die Landschaft hier oben ist eher geprägt von steinernen Burgruinen und den Mauern mächtiger römischer oder mittelalterlicher Festungsanlagen. Und dennoch gibt es sie, die verzauberten Märchenschlösser, umrahmt von den meisterhaften Anlagen englischer Landschaftsarchitektur. Zum Beispiel im Herzen des Peak Distrikt, einem der drei großen Nationalparks in Yorkshire. Unweit des Ortes Bakewell am Fluss Derwent in der Grafschaft Derbyshire liegt ein im barocken Stil erbauter Landsitz, der sich locker mit Sanssoucci messen kann. Chatsworth House, seit dem 16. Jahrhundert im Besitz der Familie Cavendish, der Herzöge (engl. Dukes) von Devonshire, und noch immer von diesen bewohnt, ist ein prächtiges Anwesen, das mindestens einen Tagesausflug wert ist.
Im mehrmals um- und ausgebauten Hauptgebäude wurden einst Könige und Königinnen empfangen, gab sich das Who is Who der englischen und internationalen Prominenz die Klinke in die Hand. Nur dem russischen Zaren war der ganze Trubel die lange Reise wohl nicht wert. Er blieb dem Vergnügen fern, obwohl auch für ihn die eine oder andere Verzierung unternommen wurde.
Aus der Not heraus
Das “stately home”, wie der Engländer solch bescheidene Hütten nennt, steckte durch etliche Ausschweifungen des 6. Dukes William Cavendish (1790-1858), bekannt auch als der “Bachelor Duke” und durch die im Laufe der Zeit aufgelaufene Erbschaftssteuer im 20. Jahrhundert so knietief im Schuldenberg, dass man sich dazu entschied, neben dem Verkauf zahlreicher Kunstwerke, Skulpturen und antiker Bücher die Tore für zahlungskräftige Besucher zu öffnen. Auf den Punkt gebracht könnte man das Unterfangen auch in einem Satz so zusammenfassen, wie es mein Schwesterchen an jenem Tag kurzerhand tat: “Irgendwelche alten Leute lassen uns also in ihr Haus, oder wie?” Nun, gar nicht mal so unwahr, nicht?
Alles, was die Taler in den Kassen klingeln lässt, steht mittlerweile auf der prall gefüllten Veranstaltungsagenda. Von Pferdeshows, über Livekonzerte bis hin zum hauseigenen Weihnachtsmarkt.
Waffeleis im Nirgendwo
Als mir mein Engländer von dem Prachtstück berichtet, bin ich Feuer und Flamme, zumal wir gerade Familienbesuch aus Deutschland im Haus haben, der unbedingt bei Laune gehalten werden muss. Das Wetter hält sich, ein Sonne-Wolkenmix begleitet uns auf unserem Weg durch die vorsommerliche Hochmoorlandschaft. Die Straßen sind gesäumt von leuchtend gelben Narzissen und unzähligen Butterblumen, die uns im Vorbeifahren lächelnd zuzunicken scheinen. Das Heidekraut, das im Spätsommer purpurn leuchtet, ist noch dunkelbraun, wirkt fast wie von der Sonne verbrannt und in Kombination mit den trockenen Grasbüscheln muten die Hochmoorebenen wie eine Mondlandschaft an.
Je höher wir hinauffahren, destso einsamer, aber auch charakteristischer wird alles um uns herum. Als wir die Grenze zwischen Kirklees und dem High Peak Distrikt Derbyshire passieren, begegnen wir einigen ziemlich ambitionierten Mountainbikern, die tapfer mit dem Aufstieg kämpfen. Spätestens seit die Tour de France hier im letzten Jahr entlangradelte, gewinnt das Cycling in dieser Gegend mehr und mehr an Popularität. Auf einer der Aussichtsplattformen in Holme Moss machen wir einen Zwischenstopp. Von hier oben schweift der Blick weit ins Tal hinab. Als wir die Autotüren öffnen, bläst uns der Wind fast orkanartig entgegen. Hier oben ist es zwar schön, aber auf die Dauer doch etwas ungemütlich.Das scheinen die hartgesottenen Engländer jedoch nicht so eng zu sehen, denn hier oben in der endlosen Weite, auf dem stürmischsten Gipfel weit und breit steht ausgerechnet ein kleiner gelber Eiswagen. Als wir uns gerade wieder in Bewegung setzen, ordert eine gut im Futter stehende Engländerin dort zwei große Kugeln in Waffel mit roter Erdbeersauce. Wir können uns ein schelmisches Lachen nicht verkneifen und fragen uns ernsthaft, ob das Geschäft hier oben vielversprechend ist.
Nichts für Sparfüchse
Dann geht es weiter Richtung Derbyshire und nach vielen Meilen auf sich dahinschlängelnden Routen erreichen wir endlich die Tore von Chatsworth House. Doch wir staunen nicht schlecht, als wir plötzlich vor verschlossener Tür stehen, der Eingang von einem hohen Holzzaun versperrt. Dann erblicken wir ein recht verwirrendes Schild und einen Pfeil, der wahllos in die entgegengesetzte Richtung zeigt. Wir kehren um und versuchen eine andere Route, doch wir landen erneut in einer Sackgasse. Beim dritten Anlauf schaffen wir es doch noch und werden für unsere Geduld reich entlohnt. Im strahlenden Nachmittagslicht erreichen wir den gut gefüllten Besucherparkplatz von Chatsworth House.
Bevor wir uns dem eigentlichen Vergnügen hingeben, müssen wir alle noch mal wohin und ich bin recht erstaunt, dass dieses prächtige Anwesen über solch, naja sagen wir mal, recht heruntergekommene Toiletten verfügt. Nicht nur, dass von Dreien gerade mal eine funktioniert, sie sind obendrein auch noch ziemlich ungeputzt und erinnern eher an ein Berliner Alternativkinoklosett als an ein herrschaftliches Örtchen. Über der Spüle weist ein Schild darauf hin, dass man sich doch bitte nicht wundern solle, das Spülwasser speise sich aus dem Fluss und könne witterungsbedingt Verfärbungen aufweisen, das sei jedoch völlig normal und kein Zeichen für Verschmutzungen. Na ja, die Verfärbungen des Spülwassers sind hier ja nun etwas nebensächlich. Egal, wir haben Kaffeedurst und machen uns auf in einen kleinen Innenhof mit Springbrunnen, um den herum lilafarbene Stühle und Tische gruppiert sind, an denen Eis geschleckt, Getränke und Kuchen vernascht werden.
Wir entscheiden uns für ein buntes Allerlei aus verschiedenen Törtchen und Heißgetränken und nehmen im gut besuchten Innenhof Platz. Während wir mit Hochgenuss das süße Gebäck in uns hineinschaufeln, studieren wir einmal ausführlicher den Prospekt. Vom Titelfoto lächelt uns ein älteres Ehepaar wohlwollend entgegen. Es handelt sich um die aktuellen Familienoberhäupter und Herzöge von Devonshire. Sie laden uns herzlich ein, das Haus und den Garten zu erkunden. Ein Blick auf die Preisliste lässt uns jedoch den Atem etwas gefrieren. 22 Pfund kostet der Spaß! Naja, bei den Schulden, die die Dynastie da angehäuft hat, wird das wohl wasserdicht kalkuliert sein. Da uns das Geld jedoch nicht so locker in den Taschen sitzt und uns nur noch zwei Stunden bis zur Schließung bleiben, stehen wir sparsamen Deutschen noch etwas ratlos in der Gegend rum, während mein Engländer ohne Widerworte zu dulden einfach zum Einlass vorsprintet und unsere Tickets großzügig aus eigener Tasche begleicht. “Ihr werdet sehen, das lohnt sich wirklich.”
Ein Augenschmaus
Ein wenig günstiger wird die Angelegenheit dadurch, dass wir nur den Garten besuchen und das Haus erstmal links liegen lassen. Meine Schwester hat zwar ihren Studentenausweis in Berlin liegen lassen, aber die freundliche Dame hinter der Glasscheibe zwinkert uns neckisch zu: “Also ich werd mich jetzt bestimmt nicht mit Ihnen darüber streiten, ob Sie Studentin sind.” Na da haben sie wir doch wieder, diese englische Lässigkeit, die ich so lieb gewonnen habe. Eine Lösung, die an einer Berliner Theaterkasse wohl nur ein empörtes Abwinken ausgelöst hätte. Hier steht man ja von vornherein unter Generalverdacht, schwarzzufahren, falsche Ausweise zu benutzen und sich überhaupt durch sämtliche Gaunereien Vorteile zu verschaffen. Ein Student ohne Studentenausweis, na wo gibt’s denn sowas? Da scheint der Engländer ein weitaus größeres Vertrauen zu den eigenen Landsleuten zu haben. Ist ja auch mal ganz angenehm.
Jedenfalls sind wir ziemlich überwältigt von dem, was sich da schließlich unserem Auge bietet. Ein landschaftsarchitektonisches Schmuckstück, das eigentlich kaum zu beschreiben ist. Auf vier Quadratkilometern erstreckt sich eine in allen denkbaren Farben leuchtende Pflanzenoase mit tropischen Gewächshäusern, in denen die ältesten Bananenpflanzen Englands zu sehen sind, romantischen Wasserfällen, die sich aus bizarren Felsformationen in die Tiefe ergießen, einem kleinen Labyrinth, das nicht so einfach zu erschließen ist, plätschernden Flüssen, traumhaften Blumenwiesen, Fontänen und originellen Rondellen. Bisweilen versprüht die teilweise exotische Pflanzenwelt fernöstlichen Charme. Kleine Zierbrücken verbinden die verschiedenen Ebenen des Parks. Dann tauchen mittendrin antike Statuen und bizarre, in Eisen gegossene moderne Skulpturen auf. Hinter jeder Biegung, an jeder neuen Weggabelung lauert eine weitere faszinierende Installation in dieser unfassbaren Traumlandschaft.
Und das Beste daran ist: Es ist hier ausdrücklich erlaubt kreuz und quer über den kurz gemähten Rasen zu schlendern, die Picknickdecke auszubreiten und all die wunderbaren Dinge zu befühlen, die einen umgeben. Egal, wie sehr wir uns beeilen, um alles zu erhaschen, zwei Stunden sind einfach nicht ausreichend, um alle Ecken zu erkunden und so sind wir auch die allerletzten Gäste, die das Grundstück der Herzogsfamilie an diesem Abend mit strahlenden Gesichtern und müden Beinen verlassen.
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