Auf den Spuren von Franz Biberkopf
“Tegel Alexanderplatz” vom Kunst-im-Knast-Projekt Auf-Bruch
Scheinschlag, November 1998
Anläßlich des 100-jährigen Jubiläums der Haftanstalt Tegel verließ das Gefangenentheater zum ersten Mal die Knastmauern. Während die Aufführung in Tegel “Auslieferung” von Gefangenen bestritten wurde, übernahmen Schauspieler ihre Rollen bei der “Einlieferung” rund um den S-Bahnhof Alexanderplatz. Grundlage für beide Aufführungen waren der Roman von Alfred Döblin “Berlin Alexanderplatz” und Interviewmaterial der Gefangenen. Ein “echter” Schauspieler meinte nach Besuch der Vorführung im Knast, daß das, was sie draussen spielen, “Pippifax” sei. Der Scheinschlag-Autor, der zufällig in die Aufführung geriet, fand das eigentlich nicht. Sein Bericht:
Der Regionalexpress setzt mich nach einem friedvollen Landwochenende abends auf dem Bahnsteig des Bahnhofs Alexanderplatz in eine mir fremde Welt ab. Durch die Ansagelautsprecher auf dem Gleis erschallen fremdländische Gesänge. Ein Müllmann im Stadtreinigungsdress steuert mit seinem großen Besen immer direkt auf mich zu und murmelt unaufhörlich: “Gehen sie weiter, das hat alles nichts zu bedeuten!” Irritiert folge ich blind den Anweisungen eines Justizbeamten, der durch das Megafon die Menschen dazu auffordert, die Treppen hinunterzugehen.
Die Meute verlässt den Bahnhof und gerät in einen Strudel von Straßenmusik und Schlägerei. Ein Handgemenge begleitet den Weg zum Bahnhofsmüllraum. Spärlich beleuchtete Personen berichten dort von ihrem Leben vor und seit ihrer Einlieferung. “Ich hätte, bevor ich die Tat machte, die Tat nicht machen brauchen”. Von hinten tippt mir eine Dame auf die Schulter: “Vorsicht, gewalttätig!”
Die Treppen zur U-Bahn als Amphitheater nutzend, fordern “normale Bürger” lautstark härteren Umgang mit Kriminellen. Franz B. sucht Mieze, die er “vorher” vergewaltigt hatte. “Ich bin von den Frauen regelmäßig enttäuscht worden. Irgendwann ist mir dann so ein Fehler unterlaufen.”
Das Stadtoberhaupt hält eine Rede zum hundertsten Jubiläum des Tegeler Knasts und zerschmettert ein Gnadengesuch.
Eine U-Bahn setzt sich in Bewegung. Im Dunkeln bleibt sie nach einigen Metern stehen. Auch für mich gibt es ein Handtuch mit der Aufschrift “Land Berlin”, allen wird die Haftordnung erklärt. Der Gefangene wirkt an der Erreichung des Vollzugsziels mit.
Was hier geschieht ist der Versuch, das Leben im Knast in die Öffentlichkeit zu tragen. “Ich habe den Toten immer vor mir gehabt. Alpträume. Weil das arbeitet ja immer mit dir mit.”
Der Mut zu zeigen, daß auch Knastis in erster Linie Menschen sind. Für die die Zeit schrecklich langsam vergeht. Die den Kontakt zur Außenwelt so verlieren, daß sie nur schwer in der Lage sind, mit Freiheit einmal wieder umgehen zu können. Sie wollen uns nichts entschuldigen, sondern mitteilen: Wir sind auch noch in dieser Stadt und sehen jeden Tag die Flugzeuge über den Knast hinwegfliegen!
Wenn sie einmal entlassen werden, haben sie oft nichts mehr und stehen noch viel schlechter da als ich, der am Ende der “Einlieferung” durch die Gittertüren des U-Bahnhofs auf den nächtlichen windigen, kalten und menschenleeren Alexanderplatz entlassen wird.