Auf dem Weg in den Abgrund

Von Stefan Sasse
Die aktuellen Ereignisse üben eine schaurige Faszination auf den unbeteiligten Zeitgenossen aus. Aktienmärkte auf Talfahrt, die Herabstufung der USA, kalter Bürgerkrieg in den USA inklusive Totalblockade des Kongresses bis eine Sekunde vor Mitternacht. Griechenland vor dem Staatsbankrott, Spanien, Portugal und Irland knapp davor, Italien und Frankreich kriselnd. Jetzt Absturz der asiatischen Börsen. Der Dollar fällt, der Euro ist insgesamt in Gefahr, die japanische Regierung ergreift Gegenmaßnahmen zur Aufwertung des Yen und in China verlieren die staatlichen Investitionen in den Dollar massiv an Wert. Währenddessen geht eine der größten afrikanischen Hungersnöte der Dekade praktisch unbemerkt vorüber, und die dramatischen Geschehnisse in Nordafrika und im Nahen Osten sind fast völlig aus dem Blick geraten. Und das Schlimmste ist: was da gerade eigentlich geschieht versteht praktisch niemand. Es muss bezweifelt werden, ob die Regierenden selbst, die in einem Stadium immer größerer Hilflosigkeit Krisentelefonate führen und Krisengipfel einberufen wissen, was eigentlich geschieht und was man dagegen tun kann. Leider muss auch bezweifelt werden dass die Akteure im Herz der Krise - Spekulanten, Investmentbanker, Vorstandschefs großer Finanzkonglomerate und dergleichen - viel mehr Ahnung haben als die Spitzenpolitiker selbst. Ich weiß, dass ich nicht die geringste Ahnung habe was da eigentlich tatsächlich gerade geschieht. Wann immer ich die aktuellen Nachrichten lese, bildet sich ein großes Fragezeichen auf meinem Gesicht.
Ist die Herabstufung der Kreditwürdigkeit der USA durch Standard&Poor's realistisch? Sind die aktuellen Verwerfungen an den Aktienmärkten Ausdruck des Herdentriebs oder Vorboten der vier größeren Krise? Taumelt der Euro in den Untergang oder wird der Rettungsschirm halten? Warum rutschen die asiatischen Aktienmärkte in die Krise? Welche Auswirkungen wird das haben? Ich könnte noch weitere Fragen auflisten, die ich nicht beantworten kann. Sie alle sind Ausdruck der zweifellos schlechten Nachrichten, die gerade täglich auf uns hereinprasseln. 2009 fürchteten manche, es wäre eine Double-Dip-Recession kommen. Wenn man von den aktuellen Verwerfungen ausgeht, scheint sie da zu sein. Finanzielle Spielräume für weitere Stimuli und Konjunkturprogramme gibt es aber kaum mehr, schon allein, weil die Kosten der Finanzkrise praktisch allein auf den Schultern der Staaten abgeladen wurden.
Möglicherweise ist die Furcht übertrieben. Vielleicht fängt sich das alles in ein, zwei Wochen, und es zeigt sich, dass die Panik letztlich doch Herdentrieb einer im Kern ungerechtfertigten Herabstufung der USA und falsch eingeschätzter Euro-Krise war. Das ist das best-case-Szenario. Vielleicht aber rutscht die Weltwirtschaft in eine neue Krise, ohne dass die Staaten noch gegensteuern würden wie sie es 2009 getan haben und wir haben 1930 reloaded. Das wäre der worst case. All denjenigen, die jetzt eine gewisse Freude nicht verhehlen können und den endgültigen Untergang des neoliberalen Kapitalismusmodells sehen, die darauf hoffen dass die Mehrheit der Menschen die Augen öffnen und das Licht sehen wird, denen sage ich: ihr irrt euch. Die aktuelle Krise oder Abfolge von Krisen oder was auch immer es ist ist keine Chance. Sie ist eine gigantische Gefahr. Ich weiß nicht, wie sie genau funktioniert, woher sie genau kommt oder wie man sie am besten bekämpft - mir scheint immer mehr, das weiß niemand. Was ich weiß ist, dass ein Zusammenbruch des Systems nicht die Verheißungen des progressiven Utopia bringen wird.
Direkte Demokratie, Mindestlöhne, vielleicht Abschaffung oder zumindest tiefgreifende Reform von Hartz-IV, Bürgergeld, noch mehr Demokratie, Reformen des Bildungssystems, Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan und und und - vergesst die Hoffnung, dass das mit der Krise kommen könnte. Das Gesicht dieser Krise ist die Tea Party, nicht Willy Brandt. Der Zusammenbruch würde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in einer Abstiegsangst münden, die sich zunehmend aggressiv gegen die Schwächsten der Gesellschaft richtet - Migranten und Arbeitslose, vor allem. Es kann eigentlich keinen Zweifel geben, dass diese Krise von den Rechten verursacht wurde. Immer mehr intelligente Beobachter der Geschehnisse, auch und gerade aus dem konservativen Spektrum, müssen sich dieser Einsicht stellen (siehe hier und hier). Nichtsdestotrotz sollte man sich nicht der falschen Hoffnung ergeben, dass dieser Sachverhalt in irgendeiner Art und Weise den Liberalismus (den echten, nicht die Perversion für die Tea Party und FDP eintreten) oder die Sozialdemokratie stärken würden, oder dass gar endlich das sozialistische Utopia näher rücken würde. Es ist unendlich viel wahrscheinlicher, dass die radikalen Rechten stärker werden, Menschen mit einer Geisteshaltung wie Anders Breivik.
Die Welt taumelt auf einen Abgrund zu. Es ist unser Glück, dass das Taumeln langsam und erratisch ist, dass manche vernünftiger sind als andere und dass die Vernünftigen derzeit noch fast überall an den Schalthebeln sitzen. Das aber kann sich ändern. Weitere Siege der Tea-Party in den USA. Europafeindliche, aggressive Parteien und Strömungen in den von der Schuldenkrise gebeutelten südeuropäischen Ländern, besonders aber in Griechenland. Krisen und darauf folgend ökonomische Umorientierung der asiatischen Volkswirtschaften, etwa ein massiver Rückzug Chinas aus dem Dollar, und so weiter und so fort. Ich denke in letzter Zeit öfter, dass wir mit Angela Merkel vielleicht mehr Glück hatten als man es vor zwei Jahren für möglich gehalten hätte. Die potenziell unvernünftigsten Parteien sind in der Regierungsverantwortung, geleitet und eingepeitscht von einer leidenschaftlosen Machttechnikerin, die auf emotionale Befindlichkeiten einen Scheiß gibt, und die Sozialdemokraten - traditionell bis zur Selbstaufgabe staatsloyal - in der Opposition. Man stelle sich eine unruhige Rot-Rot-Grüne Koalition vor, gegen die eine Schwarz-Gelbe Bundestagsmehrheit vorliegt in der sich die FDP als oppositionelle deutsche Tea-Party geriert und überall mit Brachialgewalt ihren Willen durchzudrücken versucht, unterstützt von den Dobrints dieser Welt: ein Horrorszenario, gegen das Merkels uninspirierte Kanzlerschaft wie Ambrosia wirkt.
Ich bin hin und her gerissen. Auf der einen Seite steht die unablässige Furcht, dass uns die Krise in einen Strudel antirepublikanischer Ressentiments reißt, an deren Ende die Auflösung des bisherigen politischen Systems zugunsten einer rechten, populistischen Plebiszit-Demokratur steht. Auf der anderen Seite aber hoffe ich, dass die progressiven Kräfte, die Vernunft weltweit, endlich auf die Bremse tritt und versucht, aus der Krise heraus die Reparatur des Systems einzuleiten. Ich kann mir den Druck, unter dem die Entscheidungsträger dieser Welt derzeit stehen müssen, kaum ausmalen. Man muss aber nur in das Gesicht Obamas blicken, um anhand der tiefen Furchen, die 2008 noch nicht da waren, zu erkennen, wie tief der Kampf gegen die Kräfte der Unvernunft und der Radikalität sich gegraben haben. Noch vor drei Jahren schien die größte Bedrohung unseres Lebensstandards, in einer Phantomdebatte ohnesgleichen, von der "Systemfrage" der LINKEn herzurühren. Die Systemfrage wird inzwischen offen von der Rechten gestellt, doch noch ist man zu sehr in den alten Mustern verfahren um das wirklich zu erkennen und irgendwelche Konsequenzen daraus zu ziehen. Zum ersten Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wird das republikanische, liberale System nicht mehr nur von links in Frage gestellt, sondern massiv und aggressiv - aggressiv, wie es die Linke nie war - von rechts. Wir müssen vom letzten Mal als das geschehen ist lernen und eine Allianz der Vernunft gegen die Kräfte bilden, für die der totale Zusammenbruch nur der Schoß der Geburt einer neuen Ordnung ist. Nichts von dem was uns lieb und teuer ist, seien es konservative oder linke Errungenschaften, würde diesen Zusammenbruch überstehen. Wir können nur gemeinsam überleben oder untergehen.

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