Auf dem Rückzug

Glaubt mir, ich hatte damals, als ich ins Projekt Familienzentrum einstieg, ehrlich nicht vorgehabt, mich wieder voll und ganz unter die Herrschaft meines inneren Workaholics zu begeben. Aber wie der Kerl nun mal ist, hatte er mich schnell wieder soweit, dass ich nach seiner Pfeife tanzte. Offen gestanden hatte er ja auch ein leichtes Spiel mit mir. Es reichte, dass er mir zwei oder dreimal eine spannende Herausforderung schmackhaft machte und schon hatte er meine volle Aufmerksamkeit. Der Rest kam wie von selbst: Eine Aufgabe zog die nächste nach sich, das Projekt gedieh, wurde gleichzeitig aber auch komplexer und schwieriger zu handhaben und ohne dass ich es bemerkt hatte, war ich ihm voll und ganz ausgeliefert, diesem elenden Sklaventreiber namens Workaholic. Früh morgens die ersten Mails gecheckt, noch bevor die Kinder aus dem Haus sind die ersten Anrufe entgegengenommen, auf dem WC das iPad dabei, um noch ein paar dringende Angelegenheiten zu erledigen, zwischendurch zum Computer geschlichen, um noch ganz schnell dies oder jenes zu schreiben, abends mit „Meinem“ diskutiert, wie man das Ganze am besten angehen könnte, vor dem Einschlafen noch ein letztes Mal die Mails gecheckt und dann, wenn der Schlaf nicht kommen wollte, die Sorgen hin- und hergewälzt, bis sie unüberwindbar erschienen, am nächsten Morgen völlig gerädert aufgewacht und dann das Ganze wieder von vorn. Nicht besonders gesund, ich weiss. Aber glaubt mir, wenn mich der Workaholic mal im Griff hat, dann denke ich nicht mehr, dann handle ich.

Es brauchte viel, bis mir langsam dämmerte, dass es so nicht mehr weitergehen kann. Ein zunehmend genervter Ehemann, der ganz gerne mal wieder einen netten Abend mit mir verbracht hätte, die Kinder, die klagten, weil ich schon wieder unterwegs war, Freundinnen, die Klartext redeten, meine Mutter, die mir den Spiegel vorhielt und schliesslich meine Konzentration, die nicht mehr mitmachen wollte. So langsam dämmerte mir, dass nicht mehr ich das Sagen hatte in meinem Leben, sondern der Workaholic, der mir diktierte, was zu tun sei. Man sagt ja, Selbsterkenntnis sei der erste Schritt zur Besserung, aber glaubt mir, es ist dennoch gar nicht so einfach, den Kerl wieder loszuwerden, wenn er mal da ist. Und so kam es, dass mich der Workaholic gestern während Luises Geburtstagsparty immer mal wieder zum Computer trieb, damit ich dies und jenes noch „ganz kurz“ erledigen könnte. Natürlich fiel mir das ganz schrecklich auf die Nerven, aber der elende Kerl kann so penetrant sein, dass man ihm gehorcht, auch wenn man gar nicht möchte.

Heute Abend nun ist es mir aber endlich wieder einmal gelungen, meinen ständigen Begleiter abzuschütteln. Klar, auch heute trat er mich hin und wieder unter dem Tisch gegen das Schienbein, als ich mit meinen Mitarbeiterinnen einen gemütlichen Abend genoss. „Willst du nicht noch schnell diese Mail schreiben?“, fragte er mich, währenddem wir auf die Pizza warteten. „Jetzt hättest du doch Zeit, der Computer steht gleich nebenan und morgen hast du noch so viel zu erledigen, dass du die Sache bestimmt wieder vergessen wirst.“ Zwei oder dreimal war ich im Begriff, tatsächlich aufzustehen, den Computer einzuschalten und „nur ganz schnell“ zu erledigen, was der Workaholic mir aufgetragen hatte. Aber irgendwie schaffte ich es, den Stänkerer zu ignorieren, sitzen zu bleiben und die nette Unterhaltung zu geniessen. Nun warten also morgen ganz viele kleine Aufgaben auf mich und ich bin mir fast sicher, dass ich das eine oder andere vergessen werde. Doch ich glaube, das ist es Wert, denn so viel gelacht wie heute Abend habe ich schon sehr lange nicht mehr.

Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube fast, dass der Workaholic sich heute Abend in seine Schmollecke zurückgezogen hat. Mal hoffen, dass er dort ganz lange bleiben wird…

Auf dem Rückzug



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