Von Günter Verdin
Es gibt in den Südstaaten ein Märchen, welches sich die Menschen im Film „Grüne Tomaten“ immer dann erzählen, wenn sie neuen Mut schöpfen müssen. Das Märchen handelt von einem großen See, auf dem sich ein riesiger Vogelschwarm niederlässt. Durch einem plötzlichen Kälteeinbruch friert der See in Sekundenschnelle zu, die Vögel sind im Eis gefangen. Eine ausweglose Situation?
Das Filmmärchen mit dem Titel „Grüne Tomaten“ („Fried Green Tomatoes“; USA 1991) zeigt uns Menschen , welche gelernt haben, dass die S i t u a t i o n gemeistert werden muss und nicht der Ausweg; Menschen wie Idgie und Ruth, die im konservativen rassenfeindlichen Alabama der späten 20er Jahre ihr „Whistle Stop Cafe“ betreiben, in dem Schwarze und Weiße gleich behandelt und bedient werden.
Großartige Frauen wie die total emanzipierte Idgie und die aus der Ehehölle der Angepasstheit entflohene Ruth machen selbst aus unreifen grünen Tomaten das Beste, nämlich eine Spezialität, indem sie sie fritieren. „Grüne Tomaten“ ist der Film, welcher uns zum Positiven Denken noch gefehlt hat: das erklärt den Überraschungserfolg dieser Low-Budget-Produktion beim Publikum in den USA und im deutschsprachigen Raum. Der Filmerstling des Regisseurs Jon Avnet ist so schön, zum Lachen und zum Weinen, steckt voller Dramatik und naiver Symbolik, dass unsereins stets versucht ist, sich in die ironische Distanz zu flüchten angesichts dem Gutmenschentum der Heldinnen. Helden gibt es auch, aber die sind entweder tot, fies und beim KuKlux-Klan oder zu nichts zu gebrauchen. Im Kino wechseln die Raschelgeräusche der Bonbontüten mit den Schneuzlauten der Besucherinnen.
Modernes Märchen um Liebe und Freundschaft
Auch Evelyn Couch raschelt permanent mit Papier und ist nahe am Wasser gebaut: sie wickelt in einem fort Schokoriegel aus und schlingt sie hinunter gegen den Frust ihres Ehealltags, dem sie weder durch Selbsterfahrungs-Gruppendynamik noch durch sensible Gespräche mit dem verfressenen, nur an den TV-Sportübertragungen interessierten Gemahl lösen kann. Die Geschichte von der Freundschaft zwischen Idgie und Ruth, welche ihr die 83jährige Ninnie erzählt ( der Film zeigt die Story in Rückblenden), bewirkt bei Evelyn die wunderbare Wandlung von der resignierten Hausfrau, die nach Zärtlichkeiten giert, in eine lebenslustige selbstbewusste Frau, welche ihre Erfüllung keineswegs mehr darin findet, dass der Gespons sie lobt, wenn das Hendl besonders knusprig geraten ist: "Ich bin zu jung, um alt zu sein, und zu alt, um jung zu sein“.
„Grüne Tomaten“ erzählt nicht nur ein modernes Märchen von Liebe und Freundschaft, er führt uns auch das Abenteuer der Mitmenschlichkeit vor Augen. Die Technik bricht über das verschlafene Whistle Stop in Form der Eisenbahn ein: die Technik überrollt die Menschen im wahrsten Sinne des Wortes. Idgies Bruder wird vom Zug getötet, Ruths Sohn verliert beim Eisenbahnunfall einen Arm. Typisch für die Menschen, die noch aus grünen Tomaten eine Spezialität machen: der Arm des Buben wird unter Anwesenheit des fröhlichen Hinterbliebenen in einer beschwingten Zeremonie zu Grabe getragen.
Ob es um Schwarze geht, oder um Außenseiter der Gesellschaft, oder um das geistig behinderte Kind von Ninnie („Auch wenn ein Herz bricht, hört es doch nicht auf zu schlagen“), immer siegt die Liebe und Gerechtigkeit. Das wirkt einerseits so, als hätte man die „Lindenstraße“ jetzt nach Alabama verlegt, ist aber andererseits nie verlogen und kitschig, auch wenn sich die Drehbuchautorin Fanny Flagg etwas flau über die witzig gemeinte kannibalische Barbecue-Szene nach dem Mord am brutalen Ehemann von Ruth hinwegschummelt.
Die Botschaft: der Mensch ist gut
Die seligmachende Wirkung des Films „Grüne Tomaten“ beruht einerseits auf seiner Botschaft, dass der Mensch gut ist, wenn man es ihm zutraut, und andererseits auf seiner schlichten, aber stimmungsvollen Bildhaftigkeit: Regisseur Jon Avnet und sein Kameramann Geoffrey Simpson lieben das milde Licht der Sonnenuntergänge, welches, durch das Wasser des großen Sees reflektiert, den schönen Antlitzen seiner Hauptdarstellerinnen etwas Beseeltes, schier Heiliges verleiht. Die Wirkung beruht aber auch auf dem köstlichen Humor des Films, der getragen wird von den beiden „Oscar“ -Preisträgerinnen Kathy Bates als Couch-Tomatoe und Jessica Tandy als Ninnie.
Nochmals Rückblende: Am Sterbebett von Ruth erzählt Idgie die Geschichte vom See zu Ende. Die im Eis des Sees gefangenen Vögel erhoben sich nämlich mit vereinter Kraft und nahmen den See einfach mit sich…..
(12. September 1992, veröffentlicht in einer Salzburger Tageszeitung- Redaktionelle Mitarbeit: Alexander Tomo)