Auch Du Brutus? Von Rauchern und Nichtrauchern

Von Ralf Boscher @RalfBoscher
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Ach die Nichtraucher, zur Zeit gibt es immer mehr von ihnen. Das ist wie mit der Grippe. Nur später. Nicht im Herbst. Sondern nach Neujahr. Jahr für Jahr kommt diese Welle. Und geht meist schnell wieder vorbei. Ganz ohne Impfen. Dabei wäre es natürlich vernünftig, sich gegen die Grippe impfen zu lassen. Und natürlich ist es vernünftig, mit dem Rauchen aufzuhören. Nie zu beginnen. Und so handeln alle, die mit dem Rauchen aufhören, sehr vernünftig. Der Mensch ist das „animal rationale“. Also nachgedacht, und gut ist. Kommt in Wellen, wie gesagt. Dieses vernünftige Nachdenken – und vor allem, sich seine Vernunft zur Richtschnur seines Handelns zu machen. Adé Zigarette. Und weil in diesem Jahr die Welle bei vielen noch nicht am Strand der Rückfälligkeit gebrochen ist, ist das „Aufhören“ auch jetzt noch Thema. Wie gesagt, es ist eine Epidemie. Selbst er, den man seit Jahrzehnten nur als Raucher kannte – basta, fini. Auch Du Brutus?, denkt man, während er mit den Schultern zuckt, an seiner Cola Zero nuckelt (noch so eine Epidemie) und man selbst mannhaft sein Bier nimmt und hinaus in die Kälte geht.

Und so stehen mittlerweile immer weniger Unverzagte (Unvernünftige) in der Kälte, im Regen, auf einem Balkon, vor der Gaststätte, vor dem Bürogebäude. Kurz draußen vor der Tür. „Draußen vor der Tür“ war eine dieser Erzählungen, die einen nachhaltig beeindruckten, ob dieser unerbittlichen Zwangsläufigkeit des Schicksals, der Trauer, die den Einzelnen fasste und gleichzeitig in die Einsamkeit entließ. Na gut, jetzt sollte der Boscher nicht den Borchert machen. Schließlich ist Rauchen kein Schicksal, sondern eine Sucht. Und dem Brutus klopfe ich ja auch auf die Schulter, weil er es endlich geschafft hat, seit Wochen ohne Zigarette zu leben. Ein Wunsch, den ich von ihm ebenso lange kannte, wie ich ihn mit Zigarette erlebte. Und weil Alkohol und Zigaretten gerne Hand in Hand durchs Leben wanken, hat er auch gleich dem Alkohol abgeschworen. Nieder mit dem Diktatoren! Nieder!, ich prostete ihm mit meinem Bier zu.

Politisch gesehen ist dies natürlich ein bedeutender Schritt. Selbst die „gesunden“ Zigaretten, also jene ohne Zusatzstoffe, atmen den Hauch von Ausbeutung. Da können sie noch so viele Indianer auf die Verpackung drucken, nach Fair Trade-Richtlinien sind hier kaum Zigaretten hergestellt worden. Vom Rest mal ganz zu Schweigen. Freiheit. Immer Freiheit. So die Werbung. Aber eher Freiheit der Globalisierung. Der Riesenfirmen. Da bekommt man als Raucher auch politisch ein schlechtes Gewissen. Nur gut, dass das Bier, mit welchem man Abends in der Kälte steht und in das der Regen tropft, aus deutschen Landen ist. Quasi um die Ecke. Kurze Wege. Gut für die Ökobilanz. Regional ist der Affront gegen Globalisierung. Das klappt bei Zigaretten nicht so gut. Wobei das Nachdenken über derlei Dinge sich irgendwie hohl anfühlt. Denke tiefer. Lasse die Zigarette und gut ist!

Jawohl! Aber was ist mit der Steuer? Und mit der Rente?, so fragt der gleichwohl unverbesserliche Raucher. Tabaksteuer. Kein Klacks. Blauer Dunst für schwarze Zahlen im Staate. Und die Rente? Die Sterblichkeitsrate bei Rauchern ist aufgrund von durch das Rauchen verursachten Erkrankungen hoch. Und sie sterben nicht erst dann, wenn die Rentenkasse für ihr Auskommen aufkommen muss. Sondern früher. Gut für die Rente der anderen – und all die, die einzahlen müssen.

Aber was ist mit den Erkrankungen zuvor?, so lautet der wichtige Hinweis. Die kommen doch allen teuer zu stehen… Ja, es heißt, dass Raucher die Krankenkassen im Quartal 500 Euro kosten. Also 2000 Euro im Jahr (Quelle: Deutsches Krebszentrum Heidelberg).

Ist natürlich ein horrender Betrag, erst einmal. Wobei, bei der richtigen Verteilung der Einnahmen der Tabaksteuer bei einem Raucher, der eine Schachtel am Tag raucht, die Hälfe der 2000 Euro wieder eingenommen wird (Quelle: Wikipedia: „Nimmt man eine Packung mit 19 Zigaretten zu 5 Euro ergibt sich folgende Rechnung: 19 * 0,0963 Euro + 5,00 Euro * 21,74% = 1,8297 Euro + 1,087 Euro = 2,9167 Euro.“, macht aufs Jahr gerechnet 1064 Euro.)

Es heißt Raucher sterben im Schnitt 10 Jahre früher als Nichtraucher. Sagen wir also wir haben einen 70jährigen Raucher, jetzt verstorben, daneben sein Kumpel, seit Jahren rauchfrei, der sich somit 10 Jahre länger auf Mutter Erde halten wird. Der Raucher rauchte seit dem er 20 ist. Also laut obiger Rechnung 50 Jahre Mehrkosten für die Krankenkassen. 50mal 2000 Euro im Jahr, insgesamt (auf Grundlage heutiger Zahlen) 100.000 Euro auf Kosten der Kassen. Minus pi mal Daumen Tabaksteuer (50.000 Euro) = 50.000 Euro, die der verstorbene Raucher der Allgemeinheit schulden blieb.

Leider hat der nichtrauchende Kollege beruflich nicht so gut für sein Alter vorsorgen können, seine Rente reicht nicht aus, um die Kosten für den Pflegedienst (oder das Altersheim) zu bezahlen. Er ist ja eigentlich fit. Rüstig. Also mit einem Augenzudrücken Pflegestufe eins. Sind knapp 1000 Euro, die von der Pflegekasse übernommen werden. Ein Pflegeheim kostet bei dieser Pflegestufe ungefähr 2500 Euro (wobei die 2500 Euro nach Hörensagen – auch bezüglich eines Pflegedienstes – eher niedrig gegriffen ist). Bleiben also 1500 Euro im Monat. Davon bekommt er mit seiner Rente 1000 Euro im Monat gerockt. Bleiben also 500 Euro fürs das Sozialamt. Macht also für die 10 Jahre länger leben als der Raucher: 120.000 Euro aus der Pflegekasse aufgrund Pflegestufe 1, dazu 60.000 Euro vom Sozialamt, um die Differenz auszugleichen.

Also böse gerechnet kostet dieser 10 Jahre länger lebende Nichtraucher die Allgemeinheit 130.000 Euro mehr als der früher verstorbene Raucher.

Nun gut, wie dem auch sei. Vielleicht habe ich mich ja auch verrechnet. Außerdem liegen die Renten derzeit im Schnitt noch höher als oben genannter Betrag. Und zudem: Natürlich ist es vernünftiger, nicht zu rauchen. Und wenn man überlegt, wie groß die Schnittmenge von Rauchern und Trinkern ist, dann fallen die Zahlen sicherlich günstiger für die Vernünftigen aus. Und so kann man allen, die es schaffen, aufzuhören, nur auf die Schulter klopfen. Sie als Vorbild nehmen – wenn sie nicht gerade das „Lassen der Zigarette“ mit einer gehörigen Portion Arroganz untermalen. Aber das tun nur die Wenigsten. Bei den meisten „Ehemals Rauchern“ ist eine gehörige Portion Demut zu spüren. Und so ist es wohl auch angemessen gegenüber einer großen Gefahr. Demut. Keine andere Handlung lässt einem so sehr die Chance, die Gefahr richtig einzuschätzen und ihr zu entgehen.

Also unter dem Strich: Hut ab! Egal, dass Du Brutus mich in der Kälte stehen lässt. Sei stolz auf Dich! Und was immer auch 10 Jahre mehr kosten, wenn es denn 10 glückliche und auch gesunde Jahr sind… Ohne Lungen- oder Kehlkopfkrebs. Ohne aufgrund von Gefäßerkrankungen absterbende Gliedmaßen. Ohne COPD. Wer mag das mit Geld aufwiegen? Und wer weiß, vielleicht war der erwähnte, länger lebende Nichtraucher ein Kumpel des verstorbenen Rauchers und hat sich vor etlichen Jahren gedacht: „Also was der am Tag an Kohle veratmet, das leg ich mir zur Seite“. Wären, nur mal so auf die letzten 10 Jahre gerechnet (bei einer Schachtel am Tag), rund 18.000 Euro. Wie gesagt: Brutus ist vernünftiger.

PS: Der Auslöser für meine Gedanken übers Rauchen war, dass ich von einem Ehepaar hörte, dass sich kennt, seitdem beide 17 sind. Heute sind sie über 70. Und der Mann weiß bis heute nicht, dass seine Frau seit damals raucht (1 Schachtel am Tag).


Zitat aus „Engel spucken nicht in Büsche. Roman über Liebe, Tod und Teufel“:
„Das Zittern hatte sich schließlich gelegt. Er hatte sich zusammengerissen. Alex war dann in die Küche hinaufgegangen, um eine Tasse Kaffee zu trinken, bevor er sich an den angefallenen Schreibkram machen würde.

Bis vor zwei Jahren hatte er bei dieser Gelegenheit geraucht. Eine Tasse Kaffee und eine Benson & Hedges. Oder zwei. Oder je nachdem, wie kräftig er die Entspannung herbei rauchen musste: drei. Irgendwann aber war Alex aufgefallen, dass da etwas nicht stimmen konnte. Stress wirkt sich ja bekanntlich auf den Kreislauf aus, er fühlte sich gehetzt, atmete nicht durch, atmete nur flach und verkrampfte sich dadurch. Jeder Atemzug blieb ihm im Hals stecken und erreichte den Rest des Körpers nicht. Manchmal fühlte er sich, als hätte er die Stirnhöhlen vereitert, Kopfschmerzen bekam er und Sehstörungen, dazu Nackenschmerzen, Kälteschauer, das ganze Programm. Am liebsten war ihm dann, schlafen zu gehen, sich einfach ins Bett zu legen und zu schlafen, ohne jemals wieder aufzustehen. Denn aufzuwachen war deprimierend, wenn man sich nach dem Schlaf noch genauso zerschlagen fühlte, wie vor dem Einschlafen. Eine Zigarette war da nur Wasser auf die marode Mühle, denn er fühlte sich nach ein paar Zügen nur noch kaputter, zerschlagener.

Und dazu kam dann noch das deprimierende Gefühl, trotz alledem nicht anders zu können, und wieder und wieder der Illusion der entspannenden Zigarette zu erliegen. Der deprimierende Zwang, unter Belastung zur Halt und Stärke versprechenden Zigarette zu greifen, nur um sich danach noch beschissener zu fühlen, denn nach einer Zigarette sah für ihn das Leben viel zu oft noch grauer, enger und bedrückender aus als vor ihr.

Seinen Entschluss, mit dem Rauchen aufzuhören, stärkte, dass die Zigaretten einer Zeit angehörten, die Alex als längst überwunden ansah: seiner Jugend, abgeschlossen mit der Trennung von Sandra. Und darin, nicht mehr zu rauchen, sah er ein weiteres Indiz für seine Veränderung, für seine positive Entwicklung weg vom kleinen, schwachen, dicklichen Jungen und hin zum autonomen, von den Eltern und dem Urteil der anderen unabhängigen, leistungsstarken, erfolgreichen Mann.

Mit 15 etwa hatte er mit dem Rauchen angefangen, denn er wollte ein Mann sein, wie die Werbung es versprach, ein Mann ein Ganzer Kerl allen Lebenslagen gewachsen und so fest in seiner eigenen Kraft verwurzelt wie die kräftige Zigarette in seinem Mundwinkel. So wollte er sein, und damals hatte er noch eine andere Marke als die Benson & Hedges geraucht. Doch dann dachte sich Alex, wie kann jemand unabhängig, kraftvoll, mit sich im Reinen sein, der raucht?

Und dennoch… So stolz er auch immer darauf war, als einer der wenigen wirklich aufgehört zu haben, heute hätte Alex verdammt gerne eine geraucht. So schlecht wie er sich fühlte, hatte er sich nach einem Halt gesehnt, um all dem Scheiß der letzten Tage etwas entgegensetzen zu können. Er hatte das Bedürfnis nach etwas Qualmendem zwischen den Fingern gehabt, um das Gefühl zu bekommen, alles im Griff zu haben.
Seit langem das erste Mal hatte Alex sich danach gesehnt, die Plastikhülle einer Zigarettenschachtel abzureißen, die Schachtel zu öffnen und sich eine würzig riechende Benson & Hedges unter die Nase zu klemmen. Er würde am Fenster sitzen, eine dampfende Tasse vor sich auf dem Tisch. Draußen wäre die Straße in warmes, oranges Straßenlaternenlicht getaucht, und er entzündete ein Streichholz an. Der strenge Schwefelgeruch würde sich mit dem kräftigen Aroma des Kaffees mischen und zusammen mit dem Duft brennenden Holzes eine entspannende Atmosphäre verbreiten. Alles würde nicht mehr so schlimm erscheinen, und in aller Ruhe hielte er die Flamme an die Spitze der Zigarette. Tief würde Alex den Rauch einatmen, und mit den vielfältigen Stoffen würde Ruhe durch seinen Körper strömen. Von neuer Kraft erfüllt würde er die Benson & Hedges zwischen seinem Mittel‑ und Zeigefinger betrachten, und hier fände sich die Lösung für jedes Problem. Tanjas Tod sähe nicht mehr so furchtbar aus, und seine Gewissensbisse würden sich mit dem Rauch in Luft auflösen.

Es war so verlockend, wieder eine Zigarette, nur ein einzige Zigarette, zu rauchen, auch wenn sie nach Niederlage schmecken würde, auch wenn sie ein Rückfall wäre, der bestimmt auf sein Ego drücken würde. Obwohl er wusste, dass der Druck nicht ab‑, sondern zunehmen würde, da sein Kreislauf durch das Rauchen geschwächt, und er statt Entspannung doch nur Schwindelgefühle und Kopfschmerzen ernten würde, und trotz der Erinnerung, dass der Rauch, der von vielen Zigaretten aufstieg, zum Ende hin eigentlich immer mehr nach der Wirbelsäule eines Gerippes aussah, eine Andeutung, die sich gnädigerweise meistens schnell verflüchtigte, wollte Alex ein paar Mal an einer Zigarette ziehen. Denn vielleicht würde ja dieses Mal doch alles anders aussehen. Allerdings hätte er sich erst Zigaretten kaufen müssen…“