Auch der Stutenkerl darf nicht mehr rauchen – Im Zuchthaus der Begriffsverirrung

Von Politropolis @sattler59

Jahresendzeitgedanken und Begriffsver(w)irrung – Foto: © “Stutenkerle” by S. Thomas / pixelio.de

Heute, an einem Tag, an welchem die Nebel es nicht lassen können zu wabern, zwischen den Flüssen, die sich hier den Todeskuss geben, stach mir in der Auslage einer Bäckerei ein kleines Männchen ins Auge, das ich aus meiner Kindheit noch kenne. Dort, wo ich aufwuchs, zwischen Münsterland und Ruhrgebiet, hieß zu meiner Zeit die Figur noch Stutenkerl: Ein Mann, geformt aus Hefeteig, mit einer weißen Porzellanpfeife im Mund, die Konturen des Gesichtes mit Rosinen nachgeformt. Natürlich war mir klar, dass diese Figur hier anders heißen musste. Also ging ich in die Bäckerei und fragte die Frau hinter der Theke, wie denn der vorweihnachtliche Zeitgenosse hier so hieße. Die überaus nette und mit Humor ausgestattete Dame entpuppte sich als eine Migrantin vom Balkan und antwortete, dass sie erst nachschauen müsse. Wissen Sie, so ihre hart akzentuierte Antwort, vor zwei Jahren noch war das ein Martinsmann. Dann sah sie in einer Kartei nach und fand die aktuelle Bezeichnung. Jetzt figuriert der Stutenkerl unter dem Decknamen Hefe-Nikolaus.

Es entwickelte sich eine angeregte Unterhaltung, an der immer mehr Besucherinnen und Besucher der Bäckerei Gefallen fanden und es dauerte nicht lange und wir hatten einen angeregten Diskurs über den Zeitgeist, die herrschende Moral und den Wahnsinn dieser Welt. Die politisch immer korrekter werdenden Bezeichnungen und Charakterisierungen von Backwaren und Süßspeisen allein könnte, so die einhellige Meinung, genug Stoff bieten als Beleg für die mentale Verkrustung der Gesellschaft. Wie gesagt, das Gespräch fand statt in Mannheims Q-Quadraten, im Volksmund Fressgass genannt, an einem ganz normalen Tag in der Woche, in einer ganz normalen Bäckerei und natürlich mit ganz normalen Leuten.

Und es dauerte nur wenige Augenblicke, bis die Diskussion sich um die große Scheinproduktion unserer Gesellschaft drehte, das Auseinanderdriften von unmittelbarer Erfahrung und konsensualem Kodex, von Anspruch und Wirklichkeit. Gerade der Umstand, dass diese hier so zufällig zusammen gekommenen Menschen aus kulturell, national und sprachlich unterschiedlichen Kontexten kamen, führte dazu, dass die Muster von Herrschaftsideologie und wahrem gesellschaftlichen Sein sehr schnell identifiziert wurden. Und wir waren uns sehr schnell einig, dass es hülfe, wenn die medial so exponierten Welterklärer nur selbst einmal einkaufen gingen. Denn dann erhielten sie ein, wie es so schön heißt, “Feedback”, das ihnen das Grausen verdeutlichte, das sie erzeugen mit ihrer scheinheiligen Moral und der Eiseskälte, mit der sie Traditionen meuchelten, deren Sinnstiftung sie nicht verstehen, weil sie im Anspruch der Aufklärung das Ritual als eine die Herrschaft stabilisierende Unart begreifen, den Sinn dahinter aber nicht sehen. Stattdessen werden Terminologien in den Vordergrund gepresst, die die Illusion der Freiheit von Herrschaft schaffen, ohne das System der Herrschaft zu zerstören. Denn noch keine Bezeichnung, und sei sie noch so ehrlich und gut gemeint, hat die Macht, die das Dasein der zu Beklagenden erschwert, je gebrochen. Namen sind Schall und Rauch. Wer sich darauf beschränkt, als Broker der Begriffe unterwegs zu sein, der wird die Welt nicht ändern.

Als ich dann bezahlt hatte und noch einmal in die Auslage zu den anderen Stutenkerlen, Martinsmännern oder Hefe-Nikoläusen schaute, fiel mir noch auf, das das wichtigste Requisit, das ich aus meiner Kindheit kannte, fehlte: Die weiße Porzellanpfeife. Als ich das laut monierte lachte die nette Frau hinter der Theke zurück und rief, ja, mein Herr, selbst rauchen darf der arme Kerl nicht mehr. Ach, welch menschliche Regung, im Zuchthaus der babylonischen Begriffsverwirrung!


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Quellen – weiterführende Links

Foto: © “Stutenkerle” by S. Thomas / pixelio.de
Die Red. wünscht in diesem Sinne frohe Jahresendzeitfeste