Als vor einigen Tagen Steven Spielbergs neuer Streifen Lincoln in die deutschen Kinos kam, berichteten die hiesigen Medien von der Bedeutung Lincolns für die Vereinigten Staaten. Sie zitierten Barack Obama, der meinte, ohne Lincoln wäre er nicht an der Stelle, an der er heute stehe. Sie bemühten nicht nur dessen geistige, sondern auch seine politische Nähe zu Abraham Lincoln und erklärten diesen ins Transzendente gesetzten US-Präsidenten der Bürgerkriegszeit zum Sklavenbefreier. Spielbergs Film zeige, so das cineastisch Feuilleton, dass politischer Mut die Weltgeschichte beeinflussen könne. Manche leiteten kühn ab, dass der Film eine Art Appell an Obama sei, ein leuchtendes Beispiel, in eine wackere Führerschaft hineinzuschlüpfen. Daniel Day-Lewis' (mal wieder) imponierende Darstellung brächte zudem die Stärke dieses Präsidenten sagenhaft auf die Leinwand.
Wenn deutsche Medien so berichten, dann greifen sie die Lobeshymnen eines US-amerikanischen Mythos, eines Heiligen der US-Geschichte auf, der den Abgleich mit der historischen Dokumentation nicht standhält. Lincoln war durchaus kein Abolitionist - für die Wiederherstellung der Einheit der Union brachte er den Norden der zuvor zerbrochenen Vereinigten Staaten gegen den abtrünnigen Süden in Stellung. Selbst erklärte er mehrmals, dass er für die Einheit der Union auch die Sklaverei akzeptieren würde. "Könnte ich die Union erhalten, indem ich alle Sklaven befreite, würde ich es tun; und wenn ich sie erhalten könnte, indem ich einige befreite und einige nicht, ich würde es gleichfalls tun. Alles was ich in Bezug auf die Sklaverei und die farbige Rasse unternehme, tue ich, weil ich glaube, es könnte helfen, die Union zu retten", schrieb Lincoln 1862 in einem Brief. Aber der Süden ließ sich nicht heimholen. Und um die europäischen Großmächte, die fast alle mit dem Süden sympathisierten, die dessen Selbstbestimmungsrecht betonten und dessen Baumwolle beanspruchten, für die Sache des Nordens zu gewinnen, erließ Lincoln eine Verordnung, in der es heiß, dass mit Beginn des Jahres 1863 alle Sklaven in den Rebellenstaaten als freie Leute anzusehen seien. Diese Verordnung galt kurioserweise nicht für loyale Sklavenhalterstaaten, die weiterhin der Union treu waren. So sicherte sich Lincoln auch den Zuspruch Europas und machte den Krieg von einer nationalen Separations- zu einer internationalen Gewissensfrage.
Die Legende verklärte diesen Coup. Später glaubte das kollektive Gedächtnis, Lincoln habe den Krieg primär aus Gründen der Sklavenbefreiung betrieben. Hieraus erwuchs ein Lincoln-Kult, der mit der historischen Wahrheit nicht immer in Einklang zu bringen ist.
Lincoln war ein Mensch. Ein Pragmatiker und Zauderer - ein Politiker. Er war zerrissen zwischen Idealismus und Wirklichkeit, zwischen seiner durchaus vorhandenen Abneigung zur Sklaverei und seiner fanatischen Liebe zur Union. Er war nicht, zu wem ihn der Diskurs macht, zu wem Obama und Spielberg ihn erklären möchten: ein Heiliger. Programme wie es nach der Abschaffung der Sklaverei für die Schwarzen weitergehen könne, hat er nicht entworfen. So gesehen hat sein plötzlicher Tod ihm die Blöße erspart, sich profunder mit der Materie auseinanderzusetzen. Er hat ja nicht mehr gesehen, wie die Freiheit der Schwarzen zu einer Form freiheitlicher Knechtschaft wurde. Wer sagt denn, dass er nicht auch pragmatisch gezaudert hätte, wenn es nach der Abschaffung Diskussionen um Schadensersatz und Entschädigung gegeben hätte? Aus Gründen der Einheit und der Friedenswahrung innerhalb der Union hätte er solche Vorhaben vermutlich ausschlagen und unterdrücken müssen.
Das sind nur Spekulationen. Keine Spekulation ist aber, dass Lincoln fehlbar war, zerrissen und so pragmatisch, dass er zugunsten eines Zieles das Untragbare erhalten hätte. Kurzum, Lincoln wandelte hienieden, er war menschlich und nicht der schon in seiner Epoche erkennbar große Mann. Memento te hominem esse; Bedenke, dass du ein Mensch bist - das musste ihm keiner zuraunen, das war ihm und seinen Zeitgenossen bewusst. Flapsig seine Profanie auf den Punkt gebracht: Auch Lincoln musst' mal pinkeln - so wie alle mal müssen. Der fast schon metaphysische Charakter seiner historischen Erscheinung, der nun mit Spielbergs Film nochmal gesteigert und zu einer symbolhaften Übertragung auf Obama verklärt wird, hat diesem Lincoln-Kult nochmals Auftrieb gegeben und ihn bis ins deutsche Kulturfeuilleton schwappen lassen.
Zugrunde liegt dem ein großer Irrtum, dem sich die klassische Geschichtsschreibung gerne hingibt. Nämlich dass Geschichte vorzugsweise ein Tummelplatz großer oder größenwahnsinniger Männer und neuerdings auch Frauen sei. Mit diesem Hintergedanken bringt man Obama und Lincoln auf einen Nenner. Er möge halt auch einer wie Lincoln werden - der Lincoln, den man sich vorstellt, den es so aber nie gegeben hat. Die Namen aber, die wir im Geschichtsbuch lesen, wären austauschbar. Geschichte ist nicht Galerie von Namen, sie ist Abbild gesellschaftlicher Denkmuster, von Ideologien auf Massenbasis und populären Einflüssen. "Wer baute das siebentorige Theben? / In Büchern stehen die Namen von Königen. / Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?", leitet Bertolt Brecht seine Fragen eines lesenden Arbeiters ein und hinterfragt dabei genau die Art von Geschichtsschreibung, die Lincoln zu einer unantastbaren Gestalt, einer Art Heiliger der USA und der Menschenrechte stilisiert.
Vielleicht ist es die tiefe Sehnsucht nach einen Tribunen von Grandezza, den der amerikanische Mythos Lincoln birgt. Eine Sehnsucht, die es nun auch in Filmbesprechungen und cineastische Kommentare schaffte und die zeigt: Ein Film ist halt eben nur ein Film. Ein auf Unterhaltung programmiertes Medium - auch das hat seine Berechtigung. Er ist nie Kopie von dem, was geschah und was er behandelt. Dass man diesem Prinzip aber auch in sich seriös gebenden Medien folgt und aus einem Film einen Auftrag an Obama destillieren will, ihn mit der vermeintlichen Standhaftigkeit einer seiner Vorgänger triezt, zeigt letztlich nur, wie spielend leicht man heute Fiktion und Wirklichkeit vermengt.