Assange: Aufmarsch der Assassinen

Assange: Aufmarsch der AssassinenFünf Monate sind fast ein halbes Jahr. Ein halbes Jahr, in dem die 250.000 mehr oder weniger geheimen Dokumente, die seit einer Woche immer wieder als "von Wikileaks veröffentlicht" bezeichnet werden, im Hamburger Spiegelhochhaus lagen. Unveröffentlicht, aber schon gestohlen. Dutzende Redakteure, so berichtete das ehemalige Nachrichtenmagazin später, hätten sich eifrig durch die Diplomatendepeschen gewühlt, um den Schmutz zu finden, der sich in jeder beliebigen Zusammenstellung von 250.000 Seiten Papier weltweit finden lassen würde, suchte man nur lange genug nach ihm.
Wikileaks brauchte die sogenannten Medienpartner bei New York Times, Spiegel und Guardian, um zu verhindern, dass eine Veröffentlichung im Netz allein sich folgenlos versendet. Niemand hätte Zeit und Kraft gehabt, den Berg aus virtuellem Papier durchzusehen, lockte ihn nicht der Preis der Exklusivität. Die hat dem "Spiegel" dazu verholfen, von der Wikileaks-Ausgabe eine Rekordzahl an Exemplaren zu verkaufen. Freiheit der Daten? Aufklärung über Geheimnisse? Pressefreiheit? Bei genauerer Betrachtung geht es um nichts davon, sondern um Promotion: Julian Assange nutzt ausgewählte Presseorgane dazu, für seine Seite zu werben. Er bezahlt dafür mit der Aufmerksamkeit, die die vorab überlassenen Dokumente auf den Werbeträger lenken.
Ein schmieriges, ein ekelhaften Geschäft, das nicht freudvoller wird, wenn die eigentlichen Verbreiter der Botschaft im Nachhinein beginnen, sich vom Spender ihrer Exklusivnachrichten zu distanzieren. Zuerst veröffentlicht hat die Auszüge aus den "Geheimdokumenten" in Festlandeuropa der "Spiegel", dessen Vorabmeldungen die staatliche Nachrichtenagentur dpa ungeprüft ins Land hinausblies. In jenem Moment hatte Wikileaks selbst noch kein Fetzchen Papier aus dem Cablegate-Konvolut im Netz freigeschaltet. Sämtliche anderen Zeitungen, Fernsehsender und Radiostationen berichteten auf der brüchigen Grundlage der Vorabmeldungen - sie alle lagen mit ihren ersten Veröffentlichungen noch vor der Veröffentlichung von Wikileaks, sie alle hatten keine Möglichkeit, die Angaben zu prüfen. Sie wollten aber auch keine haben.
Um nun eine Woche später allerdings empört so zu tun, als hätten nicht sie peinliche Details aus halbgeheimen Depeschen mit Wollust bis in die letzte deutsche Bauarbeiterbude getragen. Nein, das sei dieser Fast-Vergewaltiger Julian Assange gewesen, der "Freiheiten nutze, die demokratische Rechtsstaaten bieten", wie die Süddeutsche Zeitung in einer späten Aufwallung von rechtem Rechtsstaatempfinden schreibt, "für sich selbst aber die Regeln dieser Systeme nicht akzeptieren" wolle.
Ganz anders als SZ-Ressortleiter Stefan Kornelius. Der wackere Enthüllungsjournalist hat mutmaßlich mit Händen und Füßen dagegen gekämpft, dass sein Blatt Notiz nimmt von den gemeinen Geheimpapieren auf den Wikileaksservern "in Ländern mit einem großen Herz für Meinungsfreiheit" (Kornelius). Schließlich greife, so heißt es, Assange mit deren Hilfe Demokratien an und beschimpfe sie gar als "autoritäre Konspirationen", die er durch "totalitäre Transparenz zur Offenheit zwingen" wolle (Kornelius).
Eine Ungeheuerlichkeit, findet der SZ-Kommentäter, der den Aufmarsch der Assassinen anführt, die seit einigen Tagen unter lautem "Vergewaltigung"-Geschrei dafür kämpfen, die Zahnpasta wieder in die Dose zu drücken. Es geht um den traditionellen Platz des Journalismus, der einzige sein zu dürfen, der enthüllen und anprangern darf, aber nicht muss - eine Grundregel des Systems, aber eben eine, klagt Kornelius, die Assange nicht akzeptieren wolle. Ganz anders Stefan Kornelius. Der würde Schweden nie verlassen, lägen dort Anzeigen wegen sexueller Nötigung und Vergewaltigung gegen ihn vor. Wer nichts zu verbergen hat, dem geschieht doch auch nichts! Paar Monate Untersuchungshaft, danach ein sauberer Prozess - das ist Transparenz auf süddeutsch, das ist im Fall Kachelmann ausprobiert und als tauglich befunden worden.
Mit den Veröffentlichungen der Diplomatendepeschen durch Spiegel, Guardian, dpa und, ja, auch die Süddeutsche Zeitung (unter dem Titel "Destruktive Depeschen") hat das alles gar nichts zu tun. Reiner Zufall! So ist denn im Urteil des Blattes, das die Veröffentlichungen ursprünglich als "ungeschminkte Darstellungen" lobte, die "das wahre Wesen amerikanischer Regierungswelt" zeigten, nunmehr auch "der Tanz um Assanges Auslieferung grotesk". Das Umfeld des Mannes, schreibt Stefan Kornelius in einem Anfall von Sehnsucht nach Wiedereinführung von Kollektivschuld und Sippenhaft, "schürt Gerüchte über ein Geheimdienst-Komplott, er selbst heizt die Stimmung bis ins Hysterische an und droht mehr oder minder unverhohlen den Strafverfolgern mit einer Flut von schädigenden Veröffentlichungen".
Von München aus gesehen aber wiege der Vergewaltigungsvorwurf eben "schwer". Beinahe ebenso schwer vermutlich wie der Neid darauf, dass der "Spiegel" und nicht man selbst von Wikileaks zum exklusiven Medienpartner erkoren worden war. Assange brauche kein Mitleid, sondern lediglich ein faires Verfahren, schreibt der erst jünghst ernannte Wikileaks-experte. Das müsse er bekommen, soviel Großherzigkeit darf sein, "obwohl", man staune, "die Arbeit von Wikileaks strafrechtlich kaum zu ahnden sei.
Nun dreifacher Doppel-Axel mit abschließendem Spagat, Stefan Kornelius, gefangen im Wirbel der eigenen Argumentationskette: Geheimnisverrat ist strafbar, schreibt er, für den Transporteur des Geheimnisses aber meist nicht - zumindest nicht in den Demokratien, die Assange für seine Arbeit in Anspruch nehme. Er veröffentlicht, die SZ veröffentlicht - beides ist dasselbe, "aber keineswegs vergleichbar", von München aus gesehen, denn die Motivation, die ist anders. Medien, schreibt Stefan Kornelius tatsächlich, "nutzen die Freiheit, enthüllen zu dürfen, um ihre Auflage zu erhöhen und auf Teufel komm raus auch mit ungeprüften Fakten oder geklauten Dokumenten Schlagzeilen zu machen, ehe sie dann Schlagzeilen mit der Empörung über das Klauen von Dokumenten machen".
Aber ähm, nein, falsch, Übermittlungsfehler, Druckfehlerteufel. Das hat Stefan Kornelius nicht geschrieben. Sondern etwas von Medien, die das alles nur tun, weil sie "zu einem besseren Verständnis der Welt beitragen wollen". Ganz im Gegensatz zu Assange, der abschließend zum Volksfeind erklärt wird: Dem aussätzigen Australier gehe es "nicht um Verständnis, es geht ihm um Radikalität, bei der alleine er die Regeln setzt".


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