Heute möchte ich Euch eines meiner Lieblingsbücher vorstellen: asiatische Absencen von Wolfgang Büscher. Ich schreibe sicher keine klassischen Rezensionen. Ich will einfach Lust wecken auf besondere Bücher, die ich entdeckt habe, seitdem ich mich so brennend für Reiseberichte und Einblicke in fremde Kulturen interessiere…
An diesem Buch hat mich zuerst der Titel angesprochen. Begegnet war mir der Begriff „Absence“ zuvor in meiner Arbeit mit Menschen mit epileptischen Erkrankungen. Er steht für kurze Bewusstseinspausen. Der Begriff stammt aus dem Französischen und heißt übersetzt „Abwesenheit“.
Ich hatte sofort ein Bild im Kopf: ein Dämmerzustand an der Grenze zur Bewusstlosigkeit; eine Art Trance. Ich dachte an ähnliche Zustände, die ich erlebt hatte - verursacht von erschöpfenden Reisen, der häufigen Reizüberflutung in der Fremde, der tropischen Hitze, den Gefühlen von Desorientierung, entstehenden Traumbildern, die nur noch schwer von der Realität zu unterscheiden sind (so es die gibt…). Man gerät in geradezu meditative Zustände.
Eigentlich handelt es sich bei dem Buch um eine Sammlung von Kurzgeschichten aus verschiedenen Teilen Asiens und zeichnet dadurch ein sehr vielfältiges Bild des Kontinents. Büscher ist ein exzellenter Beobachter und versteht es mit einer an Bildern reichen Sprache, fremden Kulturen und Landschaften Leben einzuhauchen. Er versucht, einen Blick hinter die Kulissen zu erhaschen und sich der jeweiligen Kultur so weit als möglich anzunähern. Dabei offenbart er auch eigene Empfindungen und verknüpft sie direkt mit den Eindrücken, die auf ihn einprasseln. Gleichzeitig bleibt Büscher ein Beobachter. So sehr er um Annäherung bemüht ist, so will er die Distanz nicht ganz aufgeben. Das Buch lädt dennoch durch seinen dichten Erzählstil zum Träumen ein und man taucht tief in andere Welten ein.
In Indien lauscht er den fremden Klängen eines Sitar spielenden Maharadschas in dessen Palast, wehrt Versuche eines Mönches ab, ihn in einem Aschram zu bekehren und erholt in einem verlassenen Kolonialkrankenhaus von einem Fieber, das ihn plötzlich befallen hat. In anderen Erzählungen reist er von Dubai über Singapur, Malaysia und Thailand nach Kambodscha oder erzählt von seinen Begegnungen in Tokyo.
Die für mich eindrücklichste Erzählung stammt aus dem Himalaya in Nepal. Er reist dorthin mit einem bekannten deutschen Ethnopharmakologen (der im Buch nicht benannt ist; Ich meine ihn erkannt zu haben…) und gemeinsam wandern sie zu einem Berg, auf dessen Gipfel Schamanen ein Ritual abhalten. Büscher verfällt währenddessen in tiefe Trance und dadurch eröffnen sich ihm innere Welten, die sonst tief verborgen liegen. Die Magie der Erfahrung und der einzigartigen Umgebung inmitten des Hochgebirges, strahlt durch die gewandte, einfühlsame und bilderreiche Sprache auf den Leser aus. Raum und Zeit scheinen zu verschwimmen. Alles in allem ein erhellendes, ehrliches und lyrisch anspruchvolles Kleinod!
Zum Abschluss noch zwei Zitate aus dem Buch. Das erste hat mich so sehr angesprochen, dass ich es auch in meinem eigenen Werk zitiert habe:
"Eine eigene Spannung erfasst uns, wenn wir reisen, wenn wir ins Entlegene dringen. Wir schauen und schauen, fahren, fahren und reden kaum mehr. Wir sehen in einer Weise, die das Darüber reden verstummen lässt, mit dem wir uns gewöhnlich behelfen. Reine Gegenwart. Was wir sonst waren, verblasst, wie in der Liebe, wie in einem Kampf. Wir streifen durch fremdes Terrain - äußerste Wachsamkeit. Hier gilt sie keinem Hinterhalt, sie gilt dem, was in diesem Moment im Augenwinkel erscheint oder am Horizont. Der Moment ist ein scheues Wild, der Horizont immer dort, wo wir nicht sind. Eine unstillbare Jagd, wir wissen es. Die Jagd ist nur Vorwand. Was zählt, ist die Stunde am Rande der Lichtung."
Das zweite zeichnet einen faszinierenden Mikrokosmos von Indiens Straßen und verdeutlicht die ungemeine Schärfe von Büschners literarischen Bildern:
„Das nächste, was ich sah, war ein nackter Bettler mitten auf der Straße, ein magerer brauner Körper, groteske Verrenkungen darbietend. Der Verkehr teilte sich und umfloss geschmeidig selbst seine exaltiertesten Gesten. Alles drängte weiter, vorbei. Was lag, blieb liegen. Jeder lenkte seinen Bus, sein Mofa, sein Tier um den Nackten herum, ohne ihn zu beachten. Kamele, Menschen, Esel, vor schwankende, hochbeladene Karren gespannt – das Rad des Lebens war kein Bild, keine mystische Idee, es war hier. Es rollte dort und fort, es versetzte mir sanfte und grobe Stöße, und gab ich nicht acht, würde es mich überrollen, wie es so viele vor mir mitleidlos überrollt hatte, angeschoben und immer weitergeschoben von Wünschen und Nöten, Träumen und Begierden, von Muskeln und dünnen Sehnen und verbranntem Benzin – unablässig um die alte Achse sich drehend, mahlend, mahlend, zu Asche, zu Staub. Nur eine Art ging unberührt durch den großen Lärm, aufreizend langsam: die heilige Kuh. Auf ihrem Pfad durch die ewige Rushhour aus blechernen und fleischlichen Leibern und den Morast, den sie hinterließen, zeigte das Kuhgesicht immer denselben mürrischen Gleichmut, ob die Lippen nun saftige grüne Blätter rupfend oder weggeworfene Reste von Dal fanden, dem Linsengericht. In dieser vollkommenen Unbekümmertheit um die Blicke der Menschen glichen die heiligen Kühe den heiligen Männern, die irgendwann ihre Familien verlassen hatten und ihr ganzes emsiges Leben, um safranfarben gekleidet oder auch nackt durch den Rest ihrer Tage zu ziehen. Beide gingen durch die Welt, ohne ihr noch anzugehören.“