Dass die im Vergleich zu anderen Ländern erstaunlich gute wirtschaftliche Lage in Deutschland mit einer systematisch betriebenen Verarmung der Massen erkauft wurde und wird, ist zwar keine neue Erkenntnis. Aber derzeit geht das Thema durch die Medien, weil die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung die Ergebnisse einer entsprechenden Studie veröffentlicht hat.
Laut Zahlen der Statistikbehörde Eurostat waren sowohl Erwerbstätige als auch Arbeitslose in Deutschland stärker als in allen anderen europäischen Ländern zwischen der Einführung der Hartz-Reformen und dem Jahr 2009 von der Ausbreitung von Armut betroffen. Wobei anzunehmen ist, dass sich nach Ausbruch der Finanzkrise 2008 bis heute die Zahlen verschoben haben dürften – zumindest Griechenland und Spanien dürften locker an Deutschland vorbeigezogen sein – die Ausbreitung von Armut ist ein Problem in ganz Europa.
Aber zurück nach Deutschland: Seit 2004 sind die Beschäftigtenzahlen kräftig gewachsen, die Arbeitslosigkeit hat deutlich abgenommen. Doch diese auf den ersten Blick positive Entwicklung (“sozial ist, was Arbeit schafft”) hat eine Schattenseite, wie auch WSI-Forscher Dr. Eric Seils erklärt: “Analysiert man die soziale Lage der Erwerbsbevölkerung, dann zeigt sich, dass die deutschen Beschäftigungserfolge mit einem hohen sozialen Preis verbunden waren.”
2009 waren laut Eurostat in Deutschland 7,1 Prozent der Erwerbstätigen von der so genannten Arbeitsarmut betroffen. Das bedeutet, dass ihnen standen weniger als 60 Prozent des mittleren bedarfsgewichteten Nettoeinkommens zur Verfügung standen, was nach gängiger Sozialwissenschaft als Armutsgrenze angesehen wird. In Deutschland liegt diese Schwelle für einen Alleinstehenden bei 940 Euro im Monat.
Im Vergleich zu 2004 ist der Anteil der “Working Poor” um 2,2 Prozentpunkte gestiegen. Damit nahm die Arbeitsarmut in Deutschland, ebenso wie in Spanien, deutlich stärker zu als in allen anderen EU-Staaten. Im EU-Durchschnitt wuchs die Armutsquote unter Erwerbstätigen nach Eurostat nur um 0,2 Prozentpunkte. Damit hat sich Deutschland ins obere Mittelfeld bei der Arbeitssarmut geschoben – nachdem dieses Problem in Deutschland in früheren Jahren vergleichsweise selten auftrat.
Noch deutlich drastischer ist seit 2004 die Armutsquote unter Arbeitslosen gestiegen, nämlich um 29 Prozentpunkte. Hier haben die Hartz-Reformer ganze Arbeit geleistet. Im EU-Durchschnitt waren es sonst nur 5 Prozentpunkte. 2009 hatten 70 Prozent der Arbeitslosen in Deutschland ein Einkommen unterhalb der Armutsgrenze – 25 Prozentpunkte mehr als im Durchschnitt der 27 EU-Staaten.
Aber ist ist noch nicht alles: Parallel zur Ausbreitung der Arbeitsarmut in Deutschland nahm auch die sogenannte atypische Beschäftigung stark zu. Darunter versteht man befristete Jobs, Leiharbeit, Teilzeitstellen und Minijobs, die im Durchschnitt schlechter bezahlt werden als so genannte Normalarbeitsverhältnisse in Vollzeit. Wobei atypische Beschäftigungsverhältnisse inzwischen Normalität sind, während die normalen Jobs rar werden. Auch die Zahl der Soloselbständigen wuchs, so werden Freiberufler ohne eigene Angestellte genannt, die in der Regel ebenfalls wenig verdienen. Vor knapp einem Jahr machte die Skandalmeldung die Runde, dass viele Selbstständige nicht über die Runden kommen und deshalb auf staatliche Hilfe zurückgreifen müssen – schön blöd, wo doch die Bundesagentur für Arbeit Arbeitslose mit Ich-AGs und ähnlichem reihenweise in die Selbstständigkeit gedrückt hat, um die Statistik zu verschönern.
Interessanterweise reicht die rasante Zunahme der atypischen Beschäftigungsformen allein nicht aus, um zu erklären, warum die Zahl der armen Arbeiternehmer dermaßen zugenommen hat, wie Sozialwissenschaftler Seils betont: Die Daten würden zeigen, dass “die Entwicklung der Arbeitsarmut nicht durch wenige, isolierte Beschäftigungsformen getrieben wird, sondern gleichsam die Breite des Arbeitsmarktes erfasst hat”. Kein Wunder – Zurückhaltung bei den Lohnforderungen war die Losung der vergangenen Jahre, und wenn dieses Jahr endlich wieder einmal Tarifabschlüsse erreicht werden können, die ungefähr den Inflationsausgleich ausmachen, wird das gleich als ungeheures Lohnplus verkauft, über das die Arbeitgeber entsprechend laut stöhnen. Allerdings stöhnen sie inkonsequenterweise auch wieder darüber, dass die Deutschen die deutsche Wertarbeit verschmähen und nur noch Billigkram kaufen – aber woher soll die Kaufkraft denn kommen? Die gut verdienenden Manager geben ihre Kohle doch lieber beim Wochenend-Shopping in London, Paris oder New York aus. Und wer sich das nicht leisten kann, kauft halt bei Lidl oder H&M.
Die hohe Armutsquote unter deutschen Arbeitslosen beruht vor allem auf einem immer höheren Anteil an Langzeitarbeitslosen. Diese sind seit der Abschaffung der Arbeitslosenhilfe im Zuge der Hartz-Reformen in Deutschland nicht mehr gegen Armut abgesichert: Nach einem Jahr erhalten Arbeitslose kein einkommens-abhängiges Arbeitslosengeld I (ALG I) mehr, sondern nur noch das niedrige ALG II als Grundsicherung. Und das reicht meistens nicht aus, um das Haushaltseinkommen über der Armutsgrenze zu halten. Seils sieht einen deutlichen Zusammenhang zwischen gewachsener Arbeits- und Arbeitslosenarmut: “Wer bereits in Beschäftigung arm war, wird es als Arbeitsloser erst recht sein.” Entweder, weil das Einkommen ohnehin so niedrig war, dass schon das ALG I unter der Grundsicherungsgrenze liegt. Oder weil ein prekär Beschäftigter mit unterbrochenem Erwerbsverlauf häufig nicht lange genug am Stück beschäftigt ist, um überhaupt einen Anspruch auf die Versicherungsleistung zu haben. Ich weiß selbst von Betroffenen aus meinem Freundeskreis, dass die ABM-Maßnahmen, zu denen ALG-II-Empfänger genötigt werden, oft absichtlich so gestaltet sind, dass kein erneuter Anspruch auf ALG I entsteht.