Roberto De Lapuente über Spezifiken der Armut in Deutschland
Vor einigen Tagen musste sich die Bundesregierung mit der Kritik auseinandersetzen, dass ihr Armutsbericht geschönt sei. So die eine Lesart, der andere Teil des Journalismus kommentierte abfällig, dass in diesem Land niemand hungern müsse. Ist Armut in Deutschland vergleichbar mit Reichtum light - einem Luxusleben auf etwas niedrigerem Level?Mir ist nicht ganz klar, an welchen Kriterien sich die Armut bemisst. Orientieren wir uns an den schlimmsten aller Knappheiten? Muss man mindestens Magenknurren, vergilbtes Weiß oder einen abgewetzten Kragen tragen, um sich arm zu nennen? Oder wäre das dann wiederum nur übertrieben, eine Zurschaustellung von Faulheit und Schlamperei?
Klar ist: Die Armut ist eine Ausgrenzerin mit vielen Facetten. Die Sorgen der hiesigen Armut sind wohl weitestgehend etwas anders gewichtet als in anderen Ländern. Gleichwohl ist sie existenziell. Der Arme ist hierzulande nicht auf der Suche nach einem Bissen, sondern irrt kulturell und sozio-ökonomisch ausgegrenzt durch die Straßen. Kleinigkeiten des Alltages, die mit Geld geregelt werden, bereiten Kopfschmerzen. Oftmals waren es die kleinen Summen, die mir den Schlaf geraubt haben: Der Sozialtarif in der Stadtbücherei, Geld für den Ausflug des Kindes, neue Schuhe oder eine neue Tintenpatrone.
Irgendwie bekam ich das Geld immer zusammen - und dann fehlte es wieder. Ich verbrauchte mehr als der Regelsatz hergibt, Ausgaben und Einnahmen kamen nie deckungsgleich zusammen und so schleppte ich das zu viel ausgegebene Geld in den nächsten Monat hinüber. Monat für Monat ging das so, bis zu dem Tag, an dem mit Überweisung des Arbeitslosengeldes nur noch eine Null auf dem Konto sichtbar wurde und ich mich unaufhaltsam der rotgefärbten Dreistelligkeit näherte.
Der Umgang mit dieser Situation war verschieden. Mal hieß es: »Im nächste Monat spare ich!«. Nur wo lässt es sich noch sparen, wenn ohnehin schon alles ein Mangel ist?
Dann waren da die Phasen, in denen ich nicht mal mehr meinen Kontostand geprüft habe. Und immer wieder die selbe Situation: Die permanent anwesendenen Geldsorgen rumoren, sie graben sich tief ins Gemüt und lähmen in allen Lebenslagen.
Ist es keine Armut, wenn man seinen Alltag in dauernder Sorge lebt? Wenn der Gang zur Bank zu einem Akt der Furcht wird? Ist es nicht Armut, dass dieser finanzielle Nasenring dazu führt, als sorgengepeinigter Charakter auf einem Arbeitsmarkt bestehen zu müssen, der gemeinhin Gewinnertypen bevorzugt?
Ich schrieb mal, dass die Reporter, die probeweise Hartz IV für ein Monat bezogen, nicht begreifen können, dass das langsame Ausbluten eine unglaublich psychische Belastung ist, ein Unterbuttern und ein Raubbau am Selbstwert. Unter diesen Umständen ist es schwierig bis utopisch, eine zuversichtliche Figur abzugeben.
Der Teil des Journalismus, der jetzt die Vertuschung der hiesigen Armut als ein Kavaliersdelikt abtut, unterstützt die entwürdigende Lebensweise von Millionen von Menschen. Er macht sich zum Helfershelfer derer, die die Lebenssituation der Armen gar nicht verbessern, sondern sie als natürlichen Zustand kultivieren wollen.
Ich denke, dieses finanzielle Kleinhalten und ein durch die finanzielle Situation bedingtes geringes Selbstwertgefühl bringt die Menschen dazu, für einen Stundenlohn von 3,50 Euro arbeiten zu gehen. Jobs für Menschen, die es sich eigentlich leisten könnten, angemessen zu bezahlen. Das macht die Armut, von der ich spreche, systemrelevant. Sie wird nicht auf den ersten Blick offenbar, es gibt keinen Hunger und niemand muss auf der Straße leben. Die Armut, von der ich spreche, erhält die physischen Kräfte und torpediert die psychischen Ressourcen des Einzelnen. Das schafft die Bereitschaft dafür, für unanständig wenig Geld zu arbeiten.